Wo die Toten ruhen - Psychothriller
Sie überlegte, ob Ray, der immer schon ein wenig zwanghaft gewesen war, allmählich ein ernstes Problem entwickelte.
»Es quält mich. Ich denke über dieses oder jenes Haus nach und versuche, mich an den Tag zu erinnern, an dem wir es verließen. Wer war ich an dem Tag? Warum mussten wir schon wieder neu anfangen? In den letzten Monaten habe ich Modelle sämtlicher Häuser gebaut, in denen wir jemals gewohnt haben.«
Esmé runzelte die Stirn. »Warum?«
»Leigh und ich … wir hatten Probleme.«
»Das tut mir leid.« Sie war sehr überrascht, denn dies war, wenn sie sich recht erinnerte, das erste Mal, dass Ray so etwas Persönliches über seine Ehe sagte.
»Das Leben erreicht einen bestimmten Punkt …« Er unterbrach sich. »Sie wollte …« Er hielt erneut inne. »Ich wünschte, ich wüsste einige Dinge; und ich bin hier, um dir das zu sagen.«
»Beiß dich nicht an Dingen fest, die vor ewigen Zeiten passiert
sind, kann ich da nur sagen.« Sie erhob sich, um Kaffee und Tassen zu holen. »Hey, nach dem Essen habe ich einen Leckerbissen für dich. Weißt du noch, wie du einmal Beutelmelonensamen in die Rinne hinter dem Haus geworfen hast? Sie gingen auf und setzten Früchte an. Also, ich habe das wieder so gemacht. Drei Baby-Beutelmelonen …«
Seine Hände waren zu Fäusten geballt. Sie lagen auf dem Tisch, als hielte er Gabeln darin, und er starrte auf die alte Tapete mit dem Früchtemuster, die Augenbrauen tief nach unten gezogen. Erschrocken hielt Esmé mitten im Satz inne. Sie hörte das Ticken der Uhr im Wohnzimmer.
»Mom, hör zu. Leigh ist weg.«
»Weg?«
Sein Blick wanderte zu der roten Vase, dann beugte er sich vor, arrangierte die Blumen neu und glättete mit seinen langen sensiblen Fingern einige Blätter. »Hast du dich nicht gewundert, warum sie heute Abend nicht mitgekommen ist?«
»Nun, ich dachte … Was ist passiert, Ray?« Sie ließ sich schwer auf den Küchenstuhl fallen.
»Hat sie etwas über uns zu dir gesagt, was mit uns passiert?«
»Leigh vertraut sich mir nicht an. Denkt vielleicht, ich wäre zu sehr auf deiner Seite.«
»Wir hatten eine Auseinandersetzung.«
Sie wischte sich die nassen Hände am Geschirrtuch ab und machte sich im Stillen schon auf eine schlaflose Nacht gefasst. Sie ertrug es kaum, ihn so leidend zu sehen.
»Eine körperliche Auseinandersetzung?«
»Nein, nein. Einen Streit. Ziemlich ernst.«
»Mach dir keine Vorwürfe. Es ist nicht deine Schuld.«
»Ich fürchte, es ist meine Schuld. Hauptsächlich jedenfalls.«
Gott, sie ertrug es kaum, ihren Jungen so zu sehen. Warum gerieten Frauen und Männer, die von Natur aus doch eigentlich zusammenpassen sollten, so gewaltig aneinander und taten einander so weh? »Wann? Wann ist sie weg?«
»Am Freitagabend.«
»Und … wo ist sie? Ist sie hier in Whittier bei ihren Eltern?«
»Nein. Ich habe keine Ahnung, wo sie ist.«
»Willst du versuchen, sie zu finden?«
»Das hat keinen Zweck. Ich glaube, es ist aus.«
Sie legte ihm die Hand auf den Arm. Erst nachdem er sich sanft aus ihrem Griff befreit hatte, merkte sie, dass sie ihn so fest gedrückt hatte, dass es wehgetan haben musste.
Der Mann, mit dem Kat an diesem Abend verabredet war, kam aus der Tschechoslowakei oder, wie er in seinen E-Mails erklärt hatte, aus der Slowakei, denn die Tschechoslowakei war in der Geschichte untergegangen. Sie trafen sich auf der Terrasse eines Cafés am Strand von Santa Monica. Müde von der nervtötenden Jagd nach einem Parkplatz gab sie an diesem Abend einen Haufen Geld aus, denn sie zahlte sechs Dollar Parkgebühren für die zwei Stunden, die sie für das Essen veranschlagte. Sie nahm ihre kleine Tasche, eilte auf ihren Stilettos die Straße hinunter und kam genau richtig, fünfzehn Minuten nach der verabredeten Zeit.
Der Kandidat hatte einen Ecktisch gesichert, von wo aus man den Rest des Sonnenuntergangs über dem Meer sehen konnte. Er schaute Richtung Meer; sie schaute ihn an. Ihr gefiel, dass er so groß war, als er aufstand, um sie zu begrüßen. Ihr gefiel sogar die Art und Weise, wie sein Blick sie maß, ihr stacheliges rotes Haar, so schimmernd, wie es mithilfe teurer Produkte sein konnte, und ihren schönen Busen, hübsch verpackt
in einem BH von Calvin Klein. Sie hoffte, dass er sein Online-Profil nicht genauso aufgemotzt hatte wie sie die Beschreibung ihrer körperlichen Vorzüge.
Er bestellte das billigste Gericht auf der Speisekarte und verzichtete auf den Salat. Nik fuhr nicht Fahrrad. Er wanderte
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