Wo die verlorenen Seelen wohnen
anders gezeigt hatte. Eintrittskarten von Konzerten ihrer Lieblingsbands waren darunter, das abgewetzte Lederhalsband von ihrem Hund, der in ihren Armen gestorben war, und als kostbarstes Stück die Armbanduhr ihrer Mutter, die beim Schwimmen im Meer ertrunken war. Geraldine war da gerade erst drei gewesen.
»Niemand konnte sich das erklären«, sagte Geraldine. »Meine Mutter war Schwimmmeisterin von Leinster gewesen. Sie hatte durch das Schwimmen sogar ein Stipendium für eine amerikanische Universität ergattert. Es war schon die Rede davon, sie sei eine Medaillenhoffnung für Irland bei den nächsten Olympischen Spielen. Da bin ich ihr dann in die Quere gekommen.«
»Wie meinst du das?«, fragte Shane.
Geraldine spielte verlegen mit dem Armband der Uhr herum. »Von einem Ferienjob in London kam sie schwanger zurück. Zweiter Monat. Ein Sommerflirt, weiter nichts. Die einzige Erinnerung daran war ich. Aus dem Studium in Amerika wurde da nichts mehr. Ihr blieb nichts anderes übrig, als wieder hier in Blackrock zu leben, bei ihrer Mutter. Aber sie ging weiter jeden Tag zum Schwimmen. Als der Unfall geschah, trainierte sie für einen Langstreckenwettbewerb im Meer.«
»Wie ist es passiert?«, fragte Shane.
Geraldine legte die Uhr zurück in die Blechdose. »Ein unerklärlicher Vorfall, sagt Oma. Es war an dem Tag total ruhig, das berichten alle, und sie kannte den Teil der Küste in- und auswendig. Wenn mich meine Oma danach irgendwo in die Nähe von Wasser brachte, fing ich an zu schreien. Wasser jagte mir einen riesengroßen Schrecken ein. Tut es immer noch. Ich habe immer wieder Albträume, dass ich ertrinke.«
»Ich auch.«
Geraldine schaute ihn an. »Was für Träume?«
Shane zuckte mit den Schultern. Es war unmöglich, er konnte nicht über seine Albträume reden und darüber, dass sein Vater ebenfalls davon träumte, wie das Wasser durch die Dielenbretter ihres alten Hauses nach oben stieg. »Lass uns über was anderes reden«, sagte er. »Lass uns über Bücher reden. Stellst du dir manchmal vor, wie es wäre, wenn du eine Figur in einem Buch wärst, und dann würdest du dich in einer anderen Welt bewegen und mit den Geheimnissen dort beschäftigen und so was?«
Geraldine lachte, es war ihr recht, dass ihr Gespräch sich nicht länger um ihre dunklen Erinnerungen drehte. »Das könnten wir doch tun«, sagte sie.
»Was meinst du damit?«
»Wir könnten ein Detektivbüro gründen und ein paar Geheimnisse aufklären.«
»Meinst du das ernst?«
»Natürlich nicht. Nur damit wir ein bisschen was zum Lachen haben, etwas Unterhaltung. Wär doch ganz nett, oder?«
Geraldine sagte das so, als würde es sich um den größten Witz der Welt halten. Aber Shane wusste, warum sie das vorschlug. Die Idee gefiel ihr aus demselben Grund wie ihm – wenn sie so taten, als wären sie Detektive, die einen rätselhaften Fall aufklärten, hätten sie damit einen Vorwand, um sich immer wieder zu treffen und die Nachmittage miteinander zu verbringen. Und das alles ohne den Druck, sich zu fragen, ob sie denn jetzt »zusammen« waren.
»Dann brauchen wir aber auch ein Codewort«, sagte er, halb ironisch, halb ernst.
»Wohl wahr«, antwortete Geraldine. »Lass uns dafür die Marke der Armbanduhr meiner Mutter nehmen, die dort draufsteht. Aber nur wenn du versprichst, davon nie einer Menschenseele zu erzählen.«
Sie ging ins Haus und kam mit einem Umschlag zurück, in den sie die Armbanduhr steckte. »Lass es uns mit unseren Lippen besiegeln«, sagte sie. »Dann ist es unser Geheimnis.«
Shane hoffte, dass sie ihn küssen würde. Stattdessen befeuchtete sie den Kleberand an der Rückseite und reichte ihm den Umschlag. Er fuhr ebenfalls mit seiner Zunge darüber, klebte den Umschlag dann zu und reichte ihn Geraldine zurück.
»Jetzt haben wir ein Geheimnis«, sagte sie.
Er nickte. Dann stand er auf, um zu gehen. Auf dem Weg nach Hause sah er die ganze Zeit Geraldines Lächeln vor sich, als sie den Umschlag sorgfältig in der Blechdose mit ihren Kindheitsschätzen verstaute.
Z EHNTES K APITEL
J OEY
E NDE O KTOBER 2009
A ls das neue Schuljahr bereits einige Wochen fortgeschrittten war, begannen ein paar Lehrer, Shane zu misstrauen. Aber Geraldine, das fiel mir immer wieder auf, misstraute ihm nicht nur. Sie schien seine Gegenwart richtig unheimlich zu finden. Warum das so war, bekam ich nicht heraus, obwohl ich sie gern danach gefragt hätte. Doch wenn Shane in der Nähe war, redete sie nicht mit mir, und Shane
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