Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Wo die verlorenen Seelen wohnen

Wo die verlorenen Seelen wohnen

Titel: Wo die verlorenen Seelen wohnen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Dermot Bolger
Vom Netzwerk:
war eigentlich immer in meiner Nähe, inzwischen mehr als vorher.
    Vor dem Wochenende in Wicklow war ich für die anderen in meiner Klasse nur der beste Kumpel von Shane gewesen, aber jetzt hatte ich meinen eigenen Spitznamen weg und hieß bei ihnen nur noch der Liedermacher. Schüler aus höheren Klassen hielten mich auf dem Flur an und fragten mich nach meiner Meinung zu verschiedenen Bands. Zwei Jungs aus der sechsten hätten mich gern in ihrer Band gehabt, aber mit ihnen Coverversionen von berühmten Songs aufzuführen interessierte mich nicht. Niemand wurde unsterblich, indem er wie ein anderer klang. Ich wollte meine eigenen Lieder spielen, denn egal, ob sie gut oder grässlich waren, eines waren sie auf alle Fälle, nämlich meine eigenen.
    Shane schien einen riesigen Spaß daran zu haben, dass denanderen meine Lieder gefielen. Er witzelte dauernd herum, dass er mein Tourmanager werden würde, und zu seinen Aufgaben würde dann zählen, alle Orte, an denen ich spielte, vorher zu besuchen, um das Soundsystem, die Drogen und die Mädchen für mich auszutesten. Ab und zu ging ich, wenn mir langweilig war, zu Hause auf seine Facebook-Seite, aber seltsamerweise gab es dort nur ein Foto von ihm, sonst keine Einträge, keine Angaben zu seiner Person, nichts. Auf dem Foto war er bei Sonnenuntergang am Strand von Blackrock zu sehen. Er lächelte darauf nicht, er stand einfach nur da und schaute in die Kamera. Neben sein Gesicht hatte Shane noch eine ganze Serie anderer Aufnahmen davon eingefügt, die immer kleiner und verwischter wurden, während sie sich scheinbar unendlich in den Himmel hinein ausdehnten. Als ich ihn fragte, was er denn damit ausdrücken wolle, lachte er nur und nannte es »postmoderne Ironie«. Ich hatte keine Ahnung, was »postmoderne Ironie« war, aber ich spürte deutlich, das würde die einzige Antwort sein, die ich aus ihm herausbekommen könnte.
    Shane wollte unbedingt, dass ich auch eine Seite auf Facebook hätte. Aber ich weigerte mich. Er wollte, dass dort die Texte meiner Songs nachzulesen waren. Er hätte dort gern die Fotos von mir gezeigt, auf denen ich mit meiner Gitarre zu sehen war. Er wollte auch meine Lieder aufnehmen. Aber ich weigerte mich, weil ich nicht wollte, dass irgendein Stück von mir aufgenommen wurde, bevor ich als Singer-Songwriter so weit war, dass ich einen unverwechselbaren Stil hatte, und bevor der Sound so vollkommen wie möglich war. Bestimmt hatte ich das von meinem Vater geerbt. Shane erklärte mir unablässig, dass mein Auftritt im Netz mein Leben ändern würde, dass die Hälfte der Mädchen in unserer Klasse mit jedem Jungen gehen würde, der ein paar Akkorde auf einer Gitarre zupfen konnte,und dass alle Mädchen insgeheim von einem Jungen träumten, der von allen anderen wegen seiner Songs angeschwärmt wurde. Auf Facebook hätte ich dann eine Riesenauswahl von Mädels. Aber ich träumte nur von einem Mädchen. Die nächste Gelegenheit, mit ihr mal wieder zu reden, ergab sich zwei Wochen nach unserem nächtlichen Gespräch in Wicklow, als wir zufällig nebeneinander unterwegs in den Chemiesaal waren.
    »Ich warn dich noch mal, Joey. Shane benutzt dich. Du bist für ihn so was wie sein Schoßhündchen geworden.«
    »Shane ist voll in Ordnung«, sagte ich. »Ich versteh nicht, was du dauernd gegen ihn hast. Wofür benutzt er mich denn?«
    »Er will was von dir und das wird er auch bekommen – wart’s nur ab. Du hast mir doch erzählt, dass er dir gesagt hat, er sei hierher zurückgekommen, weil seine Tante schwer erkrankt ist.«
    »Ja, und?«
    »Sie ist nicht krank. Sie ist tot.«
    Im Chemiesaal setzte sich Geraldine möglichst weit weg von mir, weil sie wusste, dass alle den Platz neben mir automatisch für Shane frei ließen. Ich fragte mich, was ich mit ihrer Mitteilung anfangen sollte, und hatte keine Ahnung, was zwischen ihr und Shane damals eigentlich vorgefallen war, dass sie ihm nun immer nur böse Absichten unterstellte. Als ich Shane später in der Mittagspause danach fragte, schien ihn ihr Misstrauen zu kränken.
    »Ich weiß nicht, warum sie mich so hasst. Wir waren vor zwei Jahren echt dicke Freunde, damals in den Sommerferien. Aber dann sind meine Eltern bei dem Brand ums Leben gekommen und danach war bei mir alles ein völliges Chaos. Wenn man die eigenen Eltern verliert, ist das ein riesengroßer Schock. Die Schwester meiner Mutter hat mich dann zu sich nach Leedsmitgenommen. Ich habe Geraldine das letzte Mal in Blackrock vor der Kirche

Weitere Kostenlose Bücher