Wo die verlorenen Seelen wohnen
mich auf einer besseren Schule unterzubringen, nicht umsonst gewesen waren. Das Fach, vor dem mir am meisten graute, war Geschichte. Die großen Zusammenhänge verstand ich ja, und es machte mir sogar Spaß, Bezüge herzustellen. Aber die Jahreszahlen von irgendwelchen Verträgen und Gesetzen im Kopf zu behalten und wann welche Regierung neu angetreten war, das schaffte ich einfach nicht. Als Shane eines Tages zu mir meinte, wir könnten doch beide zusammen für unsere Geschichtsarbeit lernen, nahm ich deshalb sein Angebot gerne an. Gleich nach der Schule wollte ich mit zu ihm gehen.
Ich schickte Mum eine SMS und sie schrieb zurück, das sei in Ordnung, wenn ich nicht zu spät nach Hause käme. Dann gab der Akku meines Handys den Geist auf, was öfters der Fall war. Überhaupt wurde mein Handy nur noch mit Klebeband zusammengehalten, weil es mir schon so oft runtergefallen war. Und dass sie es in meiner alten Schule in die Kloschüsselgeworfen hatten, machte die Sache natürlich auch nicht besser. Es hatte danach drei Wochen gedauert, bis alles wieder trocken war. Mum und ich waren inzwischen Experten darin, die Innereien zu reparieren – wie Chirurgen beugten wir uns darüber und danach funktionierte das Ding wieder für ein paar Wochen. Ich wusste, dass sie Geld gespart hatte, um mich an meinem Geburtstag mit einem neuen Handy zu überraschen. Ich verfluchte den Akku, aber wenigstens wusste Mum jetzt, wo ich war.
Shanes Zuhause war genauso, wie er es mir beschrieben hatte: eine abgeschlossene winzige Wohnung in der ausgebauten Garage eines Hauses in der Pine Lawn, direkt von der Newtownpark Avenue abgehend. Eine aufgeregt wirkende Frau tauchte aus der Küche auf, als Shane die Haustür aufsperrte. Er stellte sie mir als seine Vermieterin Mrs Higgins vor, die mich einlud, doch zum Abendessen zu bleiben. Durch die offene Wohnzimmertür konnte ich ihre beiden kleinen Söhne sehen, die über eine Xbox gebeugt waren. Zwei Zimmer in den oberen Stockwerken hatte sie an Kunststudentinnen in Dún Laoghaire vermietet, beide Anfang zwanzig, mit denen Shane wenig Kontakt hatte. Das Haus von Mrs Higgins sprudelte über von Leben, aber Shanes kleine Wohnung schien davon ausgenommen. Als er die Tür hinter uns zugemacht hatte, bildete ich mir auch ein, dass es dort kälter war als im restlichen Haus. Man hatte das Gefühl, von allem abgetrennt zu sein. Wir setzten uns auf sein Bett und holten unsere Geschichtsbücher heraus. Bald war ein Klopfen zu hören und Mrs Higgins brachte auf einem Tablett zwei gefüllte Teller herein. Shane verschwand kurz in der Toilette. Mrs Higgins musterte mich neugierig.
»Du bist der erste Freund, den Shane hierher mitgebracht hat«, sagte sie. »Der erste Besuch überhaupt.«
»Ich hab Probleme in Geschichte«, sagte ich. »Er will mit mir zusammen lernen.«
»Kann ich mir gut vorstellen, dass er dir da helfen kann. Typisch Junge, immer nur seine Geschichtsbücher und der Computer. Er hat noch nicht mal ein paar Poster aufgehängt. Das einzige Persönliche hier im Zimmer sind die russischen Puppen da.« Sie deutete auf ein Regalbrett. »Du weißt schon, solche Puppen aus Holz, wo man eine aufmacht und dann noch eine, und dann steckt immer noch eine drin, die kleiner ist. Was stellt denn ein Junge mit so was an? Obwohl er ja die meiste Zeit im Internet rumhängt, auf irgendwelchen Zockerseiten. Er erzählt nie, ob er gewinnt oder verliert, aber ich glaub, für Geld hat er ein verdammt gutes Händchen. Na ja, freut mich, dass er wenigstens einen Freund zu haben scheint. Dann mal guten Appetit, ihr beiden!«
Das Essen schmeckte nicht schlecht, aber ich fragte mich, wie es sich wohl anfühlte, wenn man sein Essen jeden Tag auf so einem Tablett hingestellt bekam. Shane hätte auch mit der Familie in der Küche essen können, erzählte er mir, aber da kam er sich etwas vor wie das fünfte Rad am Wagen. Er durfte auch das vordere Zimmer mitbenutzen, das als Wohnzimmer für die Familie und für die Gäste gedacht war. Aber genauso fühlte es sich auch an – er war hier Gast. Wie es einem wohl erging, wenn man kein anderes Zuhause hatte als so eine umgebaute Garage?
Aber bald vergaß ich diese trüben Gedanken, denn ich kam aus dem Lachen gar nicht mehr raus. Shane machte nämlich unsere sämtlichen Lehrer nach, während wir aßen. Als wir aber dann mit dem Lernen anfingen, wurde er schnell sehr ernst. In Geschichte schien es nichts zu geben, was er nicht wusste und – noch wichtiger –
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