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Wo die verlorenen Seelen wohnen

Wo die verlorenen Seelen wohnen

Titel: Wo die verlorenen Seelen wohnen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Dermot Bolger
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das zu tun, was er schon den ganzen Nachmittag im Blackrock Park hatte tun wollen: sie küssen. Ein Kuss würde reichen, um diesen Sommer, der so einsam begonnen hatte, zum größten Sommer seines Lebens zu machen. Ob sich seine Großeltern in diesem Haus auch zum ersten Mal geküsst hatten, heimlich, damit die Herrin des Hauses nichts davon merkte? Er hatte seine Großmutter nicht mehr kennengelernt, und es fiel ihm schwer, sich seinen Großvater als Jungen in seinem Alter vorzustellen. Shane blickte zu Geraldine.
    »Sollen wir besser umkehren?«
    Geraldine blickte ihn an. »Jetzt sag nicht, dass du plötzlich Schiss kriegst. Bist du ein noch größerer Feigling als Simon Wallace?«
    Shane wusste nicht genau, ob das Funkeln in ihren Augen bedeutete, dass sie ihn aufziehen wollte, oder ob sie tatsächlich wütend war. Aber ihm war klar, dass es kein Zurück mehr gab. Er würde das Haus Zimmer für Zimmer erforschen, bis Geraldine ihn schließlich bitten würde, doch endlich aufzuhören und nach Hause zu gehen. Ein schmaler Trampelpfad lief am Haus und der Mauer entlang und endete vor einem verrosteten Eisentor, das oben mit einem Stacheldraht versehen war. Über dieses Tor konnte man unmöglich klettern, aber aus der Mauer waren einige Steine rausgebrochen, sodass man mit den Füßen genug Halt fand. Eine schwarze Katze, alt und halb verwildert, kauerte misstrauisch oben auf der Mauer und verfolgte jede ihrer Bewegungen. Als sie beide auf der Mauerstanden, konnten sie auf der einen Seite den Sportplatz des Blackrock College sehen und auf der anderen die parkenden Autos vor der Blackrock-Klinik. Als sie jedoch in den Garten hinuntergesprungen waren, sah man nichts mehr, außer einem Dickicht aus Dornen und Gebüsch, das sich einen Abhang hinunter bis zum Haus hinzog.
    Leere Flaschen lagen verstreut, Scherben und Kippen. Aber man hatte den Eindruck, dass der Müll sich nur in der Ecke neben dem Tor befand. Als hätten selbst die Leute, die hier gemeinsam Party gefeiert hatten, darauf geachtet, einen gewissen Sicherheitsabstand zum Haus einzuhalten. Shane hoffte, dass Geraldine bald der Mut verlassen würde, aber sie war es, die voranging und ihnen einen Weg durch die Ranken bahnte. Schließlich tat sich eine Lücke auf und sie stolperten und rutschten und rannten den Rest des Abhangs hinunter. Erst als sie mit ihren ausgestreckten Händen gegen die Hausmauer prallten, wurden sie gestoppt. Der Verputz zerbröselte zwischen ihren Fingern.
    Hinter den Küchenfenstern, gegen die sich Zweige pressten, sah es finster aus. Die Scheiben waren von Spinnweben so dicht überwuchert, dass sie geheimen Landkarten glichen. Shane, der etwas atemlos war und sich über seine zerkratzten Arme strich, spähte durch das Fenster in die Räume hinein, in denen auch sein Großvater als Junge ein und aus gegangen war. Im Zwielicht sah alles bedrohlich und unheilverkündend aus. Die Rock Road führte nicht weit entfernt an ihnen vorbei, aber als Shane sich umdrehte und auf das Gestrüpp blickte, durch das sie sich gekämpft hatten, fühlte er sich, als hätte er einen zeitlosen Ort betreten.
    Dann hörte er inmitten der Stille ein Geräusch, das ihn frösteln machte: ein ferner, leiser Laut, als wäre ein Tropfen aufeiner ruhigen Wasseroberfläche aufgeschlagen und zerplatzt. Er blickte zu Geraldine, aber sie schien nichts gehört zu haben. Wäre Shane allein hier gewesen, wäre er jetzt umgekehrt. Aber er konnte nicht zulassen, dass Geraldine ihn einen Feigling oder noch schlimmer schimpfte. Geraldine wirkte auch verängstigt, aber sie schien ebenfalls fest entschlossen zu sein, nicht als Erste die Flucht zu ergreifen. Noch länger in die Küche hineinzustarren, hielt sie jedoch nicht aus. Sie wusste, wenn sie jetzt nicht gleich handelte, wäre sie von Furcht so gelähmt, dass sie es nicht mehr weiterschaffte.
    »Heb mich hoch«, flüsterte sie und deutete auf ein kleines Küchenfenster, das einen Spalt offen stand. »Ich glaub, da kann ich mich durchquetschen.«
    »Willst du das wirklich machen?«, fragte Shane.
    »Du bist ein fürchterlicher Angsthase, weißt du das?«
    Shane bückte sich, damit sie einen Fuß auf seine verschränkten Hände setzen konnte, dann hob er sie hoch. Mühsam zerrte Geraldine das Fenster auf. Als sie schließlich ihren Kopf ins Innere steckte, wehte ihr aus dem Zimmer der süßlich-fahle Geruch von abgestandener Luft entgegen. Sie hatte sich schon halb hineingeschoben, da befiel sie plötzlich die Angst, dass sie

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