Wo die verlorenen Seelen wohnen
vielleicht nie mehr herauskommen würde, wenn sie jetzt kopfüber hineinstürzte und sich dabei den Knöchel brach. Sie wollte Shane schon sagen, er solle sie wieder auf dem Boden absetzen, aber als sie ihm den Kopf zudrehte, hatte sie auf einmal das Gefühl, von einem unsichtbaren mächtigen Wasserschwall überschwemmt zu werden, der sie gegen ihren Willen mit sich fortzog. Sie riss erschrocken die Arme hoch, wusste nicht, wie ihr geschah, und fand sich plötzlich auf dem Küchenboden wieder. Ringsum war alles staubtrocken und auch das Gefühl zu ertrinken war verschwunden. Aber sie keuchte so heftig, dasssie auf Shanes Rufe nicht antworten konnte. Sofort kam er ihr durch das schmale Fenster nach. Dabei schrammte er sich den Ellenbogen auf und Geraldine hörte ihn leise aufstöhnen, als er neben ihr auf dem Küchenboden landete.
»Hast du dir wehgetan, Shane?«
»Ich nicht – und du? Was ist passiert?«
In der Düsternis konnten sie kaum etwas erkennen. Alle Lichtstrahlen, die noch in die Küche drangen, waren wegen der Blätter und Zweige, die sich gegen die Fenster pressten, grün gefärbt. Shane knipste seine Taschenlampe an und Geraldine zuckte zusammen, als er den hellen Strahl auf sie richtete. Sie hatte gewollt, dass er mit ihr in dieses Geisterhaus eindrang. Es war für sie eine Mutprobe gewesen. Aber jetzt wollte sie einfach nur nach Hause. Im Schein der Taschenlampe war an der Rückwand der Küche eine schmale Tür zu erkennen. Shane stand auf, öffnete sie und leuchtete mit der Lampe in einen engen, niedrigen Gang hinein, der offensichtlich in den Keller hinunterführte. Wieder hörte er das Tropfen wie von einem undichten Wasserhahn. Das Geräusch hallte in dem leeren Raum dumpf wider. Eisige Kälte strömte ihm entgegen und er schauderte. Hastig stieß er die Tür zu. Auch dieses Geräusch hallte ihnen in den Ohren. »Glaubst du, jemand hat uns gehört?«
»Keine Ahnung«, flüsterte er. Beide hatten das Gefühl, in dem Raum nicht allein zu sein, aber sie wollten das Grauen, das sie bei der Vorstellung beschlich, hier in einem Haus voller Gespenster umgeben zu sein, nicht noch verstärken, indem sie es sich gegenseitig eingestanden. »Vielleicht benutzen ja Drogendealer diesen Ort als Lager«, meinte Shane, ohne selbst zu glauben, was er da sagte. Aber er brauchte unbedingt eine Erklärung dafür, warum er an diesem Ort so große Angst hatte, warum er sich beobachtet und belauscht fühlte. »Besser, wir flüstern nur.«
Er knipste die Taschenlampe wieder aus und Geraldine griff nach seiner Hand, weil die Küche ohne den Lichtstrahl auf einmal doppelt so dunkel war. Sie sahen zurück zum Fenster. Nein, so groß war ihre Angst doch nicht, dass sie gleich wieder nach draußen klettern wollten. Zögerlich und vorsichtig schlichen sie aus der Küche hinaus und gelangten in einen Flur, dessen Boden mit großen Steinfliesen belegt war. Eine Maus huschte vorbei und Geraldine unterdrückte einen Schrei. Sie fragte sich, welche anderen Wesen wohl noch in diesen Räumen hausen mochten. Shane knipste seine Taschenlampe wieder an, hielt aber die Hand vor den Strahl, sodass das Licht nur spärlich hindurchdrang. Aber es reichte aus, um zu erkennen, dass kein Diebesgut, Alkohol oder Drogen in dem Flur gestapelt waren. Es waren auch keine Zigarettenkippen zu sehen, schmutzige Fußabdrücke oder sonstige Spuren, die Kriminelle üblicherweise zurücklassen. Das einzige Lebenszeichen kam von den dicken Spinnen in ihren großen Spinnennetzen, die sie streiften. Angeekelt zog Geraldine den Kopf ein, weil sie fürchtete, eine Spinne könnte sich in ihren Haaren verfangen.
Sie erreichten den Fußabsatz einer Treppe, die hinauf in die Eingangshalle des Hauses führte. Inzwischen hatte sich ihre Angst etwas gelegt und sie waren überzeugt, dass Simon Wallace alles nur erfunden hatte, denn es war offensichtlich, dass seit vielen Jahren niemand das Haus betreten hatte. Und doch, eine Unruhe blieb, und je tiefer sie vordrangen, desto weiter entfernten sie sich von dem kleinen Fenster, das ihr einziger Fluchtweg war.
»Mein Großvater hat hier in der Molkerei gearbeitet«, flüsterte Shane Geraldine zu. »Hier hat er meine Großmutter kennengelernt, als sie beide ungefähr so alt waren wie wir.«
»Das hast du dir gerade ausgedacht.«
»Nein, es ist wahr. Er hat mir einmal erzählt, dass sie sich genau an dieser Stelle das erste Mal geküsst haben. Als er neben ihr auf der obersten Stufe der Treppe saß, die wir gerade
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