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Wo die verlorenen Seelen wohnen

Wo die verlorenen Seelen wohnen

Titel: Wo die verlorenen Seelen wohnen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Dermot Bolger
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für eine tragische Figur willst du denn noch aus mir machen, Joey? Ich hab schon genug Mitleid von den Leuten abgekriegt, als meine Eltern gestorben sind und alle mich mit Samthandschuhen angefasst haben und auf Zehenspitzen um mich herumgeschlichen sind. Ich brauch das nicht noch mal. Ich hätte auch in Leeds bleiben können, aber ich wollte hierhernach Hause, weil ich noch ein paar Gespenster zu verscheuchen habe.« Shane starrte in die Ferne. Er wirkte plötzlich viel älter und ich spürte in diesem Augenblick, wie fürchterlich einsam er war. Es war das erste Mal gewesen, dass er mir so offen und ehrlich von den traurigen Ereignissen in seinem Leben erzählt hatte. »Ich vermisse meine Eltern immer noch sehr. Sogar ihre quälenden Streitereien, die mich abends nicht einschlafen ließen, vermisse ich. Es drehte sich immer ums Geld, ständig kamen neue Rechnungen, die sie nicht bezahlen konnten. Mum hatte genug von allem, und zwar so sehr, dass sie immer wieder ausrief, der beste Weg, um den ewigen Schulden ein für alle Mal ein Ende zu bereiten, wäre, dass einer von ihnen stirbt und der andere dann dessen Lebensversicherung ausgezahlt bekommt.«
    Der Pausenhof war inzwischen fast leer. »Wie schlimm, wenn man so was sagt«, antwortete ich, als wir uns auch auf den Weg ins Klassenzimmer machten.
    »Aber sie hatte trotzdem recht. Sie hatten beide hohe Lebensversicherungen abgeschlossen. Nach ihrem Tod wurde mir ein kleines Vermögen ausgezahlt. Das Haus in Sion Hill war zwar total ausgebrannt, aber von der Brandschutzversicherung erhielt ich noch eine größere Summe drauf. Und bei meiner Tante bin ich auch der Alleinerbe. Mein Vormund macht schon immer Scherze, dass ich ein gutes Händchen habe, wenn es ums Erben geht. Vor zwei Jahren war es mein größter Wunsch, später einmal reich zu sein. Und jetzt bin ich reicher, als ich es mir jemals erträumt hätte, auch wenn ich von dem Geld bisher nicht viel sehe, weil es für mich treuhänderisch verwaltet wird. Erst mit einundzwanzig habe ich darüber die volle Verfügungsgewalt. Aber weißt du was? Jetzt würde ich den letzten Schilling dafür hergeben, nicht völlig allein zu seinm und noch Eltern zu haben.«
    Das mit dem letzten Schilling fand ich etwas seltsam, so redete heute doch keiner mehr. »Wo wohnst du eigentlich?«, fragte ich. »Das hast du mir auch noch nie erzählt.«
    »An der Pine Lawn, in einer kleinen Einliegerwohnung, eigentlich eine ausgebaute Garage. Ich bekomm dort was zu essen und die Wäsche wird für mich auch gemacht. Die Rechnungen zahlt alle mein gesetzlicher Vormund, außerdem krieg ich jede Woche ein Taschengeld.«
    »Klingt etwas einsam.«
    »Hat aber auch seine Vorteile. Ich kann tun, was ich will.«
    »Warum isst du nicht mal bei uns?«, fragte ich. »Mum ist eine gute Köchin und sie würde sich bestimmt freuen. Kommt nicht so oft vor, dass ich Freunde mit nach Hause bringe.«
    »Ich will mich nicht zwischen dich und deine Mum drängen«, antwortete Shane. »Wo sie doch deine beste Freundin ist. Außerdem solltest du nicht mich fragen. Ich finde, du und Geraldine, ihr passt eigentlich ganz gut zueinander.« Wir hatten jetzt das Klassenzimmer erreicht. Die Tür war bereits zu, Geschichte hatte schon angefangen. »Ich hab mitgekriegt, wie sie dich immer anschaut, Joey. Geraldine ist echt reif. Die brauchst du gar nicht mehr weichzukochen. Nimm sie dir einfach.«
    Shane machte die Tür auf und im Klassenzimmer wurde es still, als wir den Raum betraten. Geraldine schaute uns an, als wüsste sie, dass wir über sie geredet hatten. Bongo Drums Quinn, unser Geschichtslehrer, der etwas an die Tafel schrieb, drehte sich um. Er war zu seinem Namen gekommen, weil er sich endlos mit seinen Heldentaten als Schlagzeuger in verschiedenen Bands brüstete. Man konnte ihm immer noch anmerken, dass er einmal ein leidenschaftlicher Rocker gewesen war. Aber jetzt legte er seinen seit zwanzig Jahren eingeübten Sarkasmus als Lehrer in seine Stimme, als er sagte: »Sie müssenwohl etwas sehr Wichtiges zu diskutieren haben, meine Herren, wenn Sie das davon abhält, sich mit Hitler zu beschäftigen.«
    »Wir haben darüber gesprochen, was wir im Leben erreichen wollen, Sir. Wie wir unsere Träume auch wirklich in die Tat umsetzen können«, antwortete Shane.
    »Ach ja?« Bongo Drums spielte mit der Kreide in seiner Hand herum, als würde er sie Shane am liebsten an den Kopf werfen. »Und wann wollen Sie Ihre Tatkraft entfalten, um Ihre Träume wahr werden

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