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Wo die verlorenen Seelen wohnen

Wo die verlorenen Seelen wohnen

Titel: Wo die verlorenen Seelen wohnen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Dermot Bolger
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zu lassen?«
    »Am Tag nach meinem einundzwanzigsten Geburtstag, Sir.« Shane zwinkerte mir zu. »Dann wird Joey nämlich zu seiner Welttournee aufbrechen. Vielleicht kann er Sie ja sogar als Schlagzeuger brauchen, wenn Sie Ihre Einsätze noch richtig hinbekommen. Wir haben vor, in allen Städten zu spielen, deren Namen früher auf den alten Radios gestanden haben. Städte, von denen Joey bisher noch nie was gehört hat.«

E LFTES K APITEL
    S HANE
    J ULI UND A UGUST 2007
    D en Rest des Sommers trafen sich Geraldine und Shane weiter jeden Vormittag in der Stadtbücherei von Blackrock. Sie verabredeten sich täglich. Manchmal – wenn sie sich reich fühlten, weil Shanes Vater wieder einmal darauf bestanden hatte, seinem Sohn Geld zuzustecken, obwohl er, wie Shane wusste, sich selbst das Essen vom Mund absparte – gingen sie in die Saftbar, die ein Stück weiter an der Bath Avenue lag, oder sie setzten sich in das Café Java neben O’Rourke’s Pub.
    Zusammen mit Geraldine erhielt Shane überallhin Zugang, mit ihr lernte er die Seele von Blackrock kennen. Sie schien alle zu kennen und alle kannten sie. An den Wochenenden machte sie ihn mit den Händlern des Blackrock Market bekannt, den Verkäufern von Sitzsäcken und Secondhandklamotten und den Tarotkartenlesern, den Besitzern des Old Curiosity Shop. Stundenlang stöberten die beiden dort herum, bis sie schließlich fortgejagt wurden. Aber auf Geheimnisse oder Rätsel stießen sie dabei nie.
    Auch im Blackrock Park gab es keine Geheimnisse aufzuklären. Es sei denn, man zählte das Geheimnis dazu, wie sich ein Junge und ein Mädchen besser kennenlernen. Den ganzen Nachmittag jagten sie sich gegenseitig über den Rasen, rolltenden Hang hinunter und juchzten dazu wie kleine Kinder, versuchten sich gegenseitig zu kitzeln, kämpften miteinander, ihre beiden Körper ein Durcheinander aus Armen und Beinen. Danach lagen sie atemlos nebeneinander, schauten in den Himmel, betrachteten die vorbeiziehenden Wolken und malten sich dazu ungewöhnliche Wesen aus: ein Kamel auf einem Einrad oder ein sechsbeiniges Schaf mit Giraffenhals, das Xylophon spielte. Jede neue Erfindung löste bei ihnen eine weitere Kaskade von Gekicher aus, bis Geraldine herausgerupftes Gras in den Ausschnitt von Shanes T-Shirt stopfte, aufsprang und sich von ihm erneut über den Rasen jagen ließ.
    Der einzige Teil des Parks, den Geraldine nicht mochte, war der künstliche Teich. Aber eines Nachmittags Ende August ließ sie sich von Shane bei der Hand nehmen und über einen schmalen Damm auf die kleine Betoninsel führen. Der Teich war nicht tief, aber Shane wusste, dass sie einfach davor Angst hatte, auf allen Seiten vom Wasser umgeben zu sein.
    »Durch Wasser werde ich mal sterben«, sagte sie.
    »Das ist Unsinn! Sag nicht so was!«
    »Aber ich weiß es. Meine Mutter ist durch Wasser umgekommen und mir wird es auch so gehen. Frag mich nicht, woher ich das weiß. Ich weiß es eben.«
    Sie sah so verletzlich aus, wie sie im Gegenlicht vor ihm stand, dass Shane sie am liebsten umarmt und endlich seinen ganzen Mut zusammengenommen und sie geküsst hätte. Aber Geraldines Körper durchlief ein Frösteln, sie ließ seine Hand los und lief schnell über den Damm ans Ufer zurück. Er folgte ihr, kurz über die Rock Road in Richtung Sion Hill blickend, wo ihn ein weiterer Abend mit Streitereien zwischen seinen Eltern erwartete. Das verdarb ihm die Stimmung. Seine Unbeschwertheit war dahin. Trotzdem hätte er Geraldine immer noch gerngeküsst, und zwar ganz dringend. Er brauchte irgendetwas, das ihre Freundschaft neu besiegelte.
    »Lass uns morgen ins Schwimmbad gehen«, sagte er. »Ich bring dir Schwimmen bei.«
    »Du weißt, dass ich Wasser hasse.«
    »Feigling«, sagte er.
    »Lass das.«
    Aber er konnte nicht anders, er musste es noch einmal sagen. »Feigling.«
    Geraldine antwortete nicht. Schweigend verließen sie den Park, Geraldine ein paar Schritte vor ihm, und dann marschierten sie hintereinander den Trampelpfad neben den Bahngleisen entlang, der als Abkürzung zum Bahnhof von Blackrock diente. Der Pfad war so schmal, dass Simon Wallace, der etwas seltsame Junge aus dem Nebenhaus in Sion Hill, ihnen beiden total den Weg versperrte. Er saß in sich zusammengesunken da, einen Flachmann in der Hand. Als sie näher kamen, schaute er auf.
    »Wen haben wir denn da? Unsere zwei Turteltäubchen? Zum Knutschen unterwegs?«
    »Halt’s Maul, Simon!«, sagte Geraldine.
    »Ist das dein Trinkerstübchen?«, sagte

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