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Wo die verlorenen Seelen wohnen

Wo die verlorenen Seelen wohnen

Titel: Wo die verlorenen Seelen wohnen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Dermot Bolger
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jedes Mal auf. Ihm ist, als wäre Joseph die einzige Person, die ihm in die Seele schauen kann und ihm schweigend sagt: Du bist kein Priester, du bist ein Heide, den es danach drängt, die Welt zu bereisen.
    »Mir laufen bei seinem Anblick Schauder über den Rücken«, sagt Molly. »Ich würde nicht gern allein sein mit ihm.«
    »Der kann bestimmt keiner Fliege was zuleide tun«, meint Jack.
    »Mich schaudert’s auch, wenn ich ihn sehe«, entgegnet Thomas, glücklich darüber, sich auf Mollys Seite stellen zu können. »Ich hab oft das Gefühl, dass er mich beobachtet, wenn ich da draußen irgendwo rumspaziere. Auf einmal spüre ich dann eineGänsehaut, den ganzen Rücken hinunter, und mir ist, als wären unsichtbare Augen auf mich gerichtet.«
    »Wahrscheinlich ist das deine Mutter, die sich wundert, was du da treibst und warum du nicht an deinem Studiertisch sitzt«, zieht Molly ihn auf.
    »Hab ich dir das von letzter Woche schon erzählt?« Thomas hält Molly immer noch in seinen Armen. »Jack und ich trieben uns etwas herum, lagen in Booterstown Marsh neben den Bahngleisen in der Sonne. Wir spielten mit unseren Messern herum und kamen auf die Idee, Blutsbrüder zu werden. Jack hatte seine Handfläche schon angeritzt und ich wollte gerade dasselbe machen, als Joseph auf einmal zwischen den Schilfrohren hervorkam, wie ein Verrückter grunzte und uns mit einem Steinhagel verscheuchte.«
    »Vielleicht war er eifersüchtig«, sagt Molly. »Vielleicht will er, dass du sein Blutsbruder wirst. Wenn man euch genauer anschaut, Jack und dich, seht ihr ihm da nicht sogar ähnlich?«
    Molly neckt sie alle beide, aber Thomas merkt ganz deutlich, dass ihre Augen dabei auf Jack O’Driscoll gerichtet sind, der ihr in gespielter Empörung mit der Faust droht.
    »Hüte deine lockere Zunge oder wir fesseln dich und schmeißen dich in seinen Schweinestall«, sagt Jack. »Joseph liebt seine Schweine. Wenn ein Ferkel krank ist, bleibt er die ganze Nacht auf, kümmert sich darum und gibt ihm die Flasche. Das Einzige, was er noch mehr liebt, als sie zu füttern, ist, ihnen mit seinem langen Messer mit dem schwarzen Griff die Kehle aufzuschlitzen, wenn die Zeit dafür gekommen ist.« Jack fährt mit dem Zeigefinger über seine Kehle und tritt dann hastig vom Fenster zurück. »Da kommt die Herrin die Straße herauf.«
    Große Geschäftigkeit setzt ein. Molly und Jack rennen zur Hintertreppe, die in die Küche hinabführt, und Thomasschnappt sich die Jazzplatte, um sie zwischen den Seiten eines ledergebundenen Buchs über die Heiligen zu verstecken, das er eigentlich studieren sollte. Er hört seine Mutter das Haus betreten und mit ihrer lauten Stimme nach den beiden Brüdern im Hof der Molkerei rufen. Er sollte jetzt eigentlich hinuntergehen, um sie zu begrüßen; sie müssen sich bald beide zur Kirche in Booterstown aufmachen, wo er bei der Vesper als Ministrant dient. Aber er kann sich noch zehn Minuten Freiheit ergattern, wenn er schnell die Hintertreppe hinunterstürmt und in den Hof hinausschlüpft, wo die Milchkannen gestapelt sind.
    Draußen im Hof ist es ruhig – ganz anders als am frühen Morgen, wenn es dort vom Lärm der Eselskarren, lauten Stimmen und genagelten Stiefel hallt. Er hört seinen Bruder Pete aus dem Haus nach ihm rufen, aber er reagiert nicht darauf.
    Vom Drang nach Freiheit getrieben rennt er die staubige Castledawson Avenue entlang, bis zu der Stelle, wo sie in die Rock Road mündet. Dort schimmern die Straßenbahnschienen im Abendlicht. Wenn er ihnen folgen würde, käme er bis in die Stadtmitte von Dublin, mit seinen Fabriken und überfüllten Arbeitervierteln, seinen Vogelmärkten und Straßenhändlern. Er könnte an den Hafenkais beobachten, wie die Schiffe beladen werden, oder den Seeleuten zuhören, wenn sie Geschichten von fremden Häfen erzählen, während chinesische Schiffsjungen mit Zopf, die kaum älter sind als er, wie erwachsene Männer den Kautabak aufs Pflaster ausspucken.
    Das Dröhnen von Motorlärm stört ihn aus seinen Gedanken auf, während er die Rock Road hinabschaut. Er blickt hoch und sieht überrascht, dass ein Flugzeug über die Dächer und Sportplätze des Blackrock College gleitet. Das Flugzeug ist jetzt direkt über ihm, der Pilot mit seiner Fliegerbrille, der gerade die Flügel schräg hält, schaut zu ihm herunter. Thomas fängtan, dem Flugzeug nachzurennen, das jetzt über die Rock Road und den Emmet Square in Richtung der Bahngleise und der Küste fliegt. Das Wunder,

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