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Wo die verlorenen Seelen wohnen

Wo die verlorenen Seelen wohnen

Titel: Wo die verlorenen Seelen wohnen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Dermot Bolger
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tatsächlich ein Flugzeug am Himmel zu sehen, lässt ihn ganz vergessen, dass er eigentlich auf seine Kleidung aufpassen müsste, damit er sauber und ordentlich zur Vesper erscheint. Wenn der Pilot jetzt eine holprige Landung neben den Gleisen hinlegen, aussteigen und fragen würde, ob Thomas nicht für einen kurzen Ausflug mitfliegen will, wohin würde er wollen? Schockartig wird Thomas klar, dass er so weit wie möglich mit dem Flugzeug fortfliegen wollen würde; zu all den fremden Städten, die in goldenen Buchstaben auf der Frequenzskala des Radios von Dr. Thompson stehen; an Orte, wo niemand weiß, dass seine Mutter für ihn eine Berufung zum Priester vorgesehen hat; zu Stätten, wo er etwas von der Welt sehen kann, nicht als Priester, sondern als Abenteurer.
    Thomas hält erst dann an, als er den Strand erreicht hat. Der Pilot aber fliegt einfach sorglos weiter und steuert in einem großen Bogen auf Bull Island zu. Thomas sieht die Insel auf der anderen Seite der Bucht im Wasser liegen. Er keucht atemlos, seine Hose ist beschmutzt, die frisch polierten Stiefel sind zerkratzt. Während er dem Flugzeug nachschaut, bis es ein kleiner Fleck geworden ist, verstört es ihn, mit welcher Heftigkeit er sich wünscht, in die Ferne zu fliegen. Er spürt, dass die Luft voller Stimmen ist, wenn er sie auch nicht hören kann. Stimmen aus dem Radio von Dr. Thompson, Stimmen aus fernen Städten, die ihm zurufen, er solle den Mut haben, von zu Hause fortzugehen.
    Hinter ihm wird laut nach ihm gerufen. Jack O’Driscoll taucht auf.
    »Das war grade knapp mit deiner Ma«, sagt er grinsend. »Dein Bruder Pete ist auf dem Kriegspfad und sucht nach dir.«
    Sie gehen gemeinsam zur Castledawson Avenue zurück. Thomas bemüht sich, nicht zu freundschaftlich mit Jack zu wirken, als er Pete entdeckt, der nach ihm Ausschau hält.
    »Bist du taub, Thomas? Wohin bist du denn plötzlich wie ein Zulu-Neger losgeschossen?«
    Thomas blickt über die Rock Road zurück und hat das Bild des Flugzeugs vor Augen, das über den Sand von Bull Island rollt. Seine Mutter hat ihm versprochen, dass er einmal an einem Sonntag einen Ausflug in die Wildnis dort machen darf, mit Pferd und Einspänner. Austernfischer und blassbäuchige Ringelgänse sollen dort ihr Paradies gefunden haben. Seine Mutter, das weiß er, wird nie mit ihm dort hinfahren. Mit einem Achselzucken sagt er: »Nirgendwohin. Ich gehöre doch nach Hause, wohin sonst, oder?«

A CHTZEHNTES K APITEL
    J OEY
    N OVEMBER 2009
    S hane kletterte aus dem Auto und ich hinterher. Ringsum war es finster, der Wind blies uns Sand ins Gesicht und dunkle Regenwolken dräuten. Shane schien genau zu wissen, welchen Pfad er einschlagen musste. Ich wollte nicht allein bei dem geklauten Wagen bleiben, deshalb lief ich ihm nach. Die blaue Gitarre hielt ich an mich gepresst. Ich stolperte durch den weichen Sand, stieß mit den Füßen an angeschwemmtes Holz, blieb in Kaninchenlöchern hängen. Bald hatte ich Shane in der Dunkelheit vollkommen aus den Augen verloren und keine Ahnung, in welche Richtung ich mich wenden sollte. Da rief Shane auf einmal meinen Namen, so leise, dass ich ihn in den Windböen kaum hörte. Ich drehte mich um und entdeckte den Umriss seiner Gestalt auf dem Kamm einer riesigen Düne.
    Ruhig wartete er, bis ich zu ihm hochgeklettert war, den Rücken mir zugewandt. Als ich das letzte, steile Stück bis auf den Kamm geschafft hatte, brach das Mondlicht durch die Wolken. Die Sicht von hier oben war atemberaubend. Vor uns erstreckte sich die gesamte Dubliner Bucht. Links von uns Howth mit seinen blinkenden Lichtern und dann, der langsam wandernde Lichtkegel des Leuchtturms von Baily inmitten der schwarzen Felsen. Aber Shanes Blicke waren auf die andere Seite der Bucht gerichtet, er starrte hinüber nach Booterstown, Williamstown und Blackrock, nach Seapoint und dann Monkstown – die gesamte Küstenlinie von Dublins Süden, von der ich bisher immer gedacht hatte, ich würde sie gut kennen. Aber nie hatte ich sie so gesehen wie jetzt, so schön und unerreichbar.
    »Als Kind hab ich mich immer danach gesehnt, einmal hierherzukommen«, sagte Shane. »Aber ich konnte meine Mutter nie dazu überreden. Manchmal, weißt du, muss man erst eine Reise machen, man muss von zu Hause fort. Wenn ich Blackrock als Ganzes sehen möchte, komme ich hierher. Denn von hier kann ich jedes einzelne Licht sehen und mir alle Menschen vorstellen, die dort jemals gelebt haben und dort jemals leben werden. Zu diesen

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