Wo die verlorenen Seelen wohnen
ein großer Park und vor uns spannte sich eine Eisenbahnbrücke über die Straße. Danach fuhren wir direkt an der Küste entlang, wir mussten jetzt in Clontarf sein. Es waren kaum Autos unterwegs und so gut wie keine Fußgänger, bis auf einen Typen, der seinen Hund Gassi führte. Jenseits des Wassers konnte ich die Lichter von Poolbeg sehen, doch dann schoben sich die dunklen Umrisse einer Insel davor, die unweit der Küste lag.
Es handelte sich um Bull Island, ein naturbelassenes, wildes Stück Erde. Die Insel hatte sich langsam aus dem Schlick und Schlamm gebildet, der an die Hafenmauer angeschwemmt worden war. Eine hölzerne Brücke führte hinüber. Wir waren schon fast daran vorbei, als Shane scharf abbog und dann mit voller Geschwindigkeit über die schmalen Holzplanken raste. Es war Ebbe, rechts und links von uns erstreckte sich Schlamm. Niemand lebte auf der Insel, die nur aus Dünen bestand, und vonTrampelpfaden durchzogen war, die sich durch das hohe Gras schlängelten. Shane trat das Gaspedal ganz durch, der Wagen holperte in voller Geschwindigkeit über die Planken. Wenn uns jetzt ein Auto, ein Fahrrad oder irgendwer entgegenkam, würden wir nicht mehr rechtzeitig bremsen können. Vielleicht wollte Shane auch nicht mehr bremsen. Vielleicht wollte er uns beide hier in der Dunkelheit töten, weit weg von den Straßenlampen der Clontarf Road, deren Lichter im Rückspiegel immer kleiner wurden.
»Um Gottes willen, fahr langsamer!«, brüllte ich.
Shane kicherte. »Mit dem Teufel kenn ich mich besser aus. Aber wenn du unbedingt meinst, ich stoppe gleich. Jetzt halt dich fest!«
Wir näherten uns dem alten Pier, der in die Dubliner Bucht hinausragt. Einen Moment lang dachte ich, dass Shane vorhatte, über die rauen Betonplatten weiterzufahren. Aber dann bog er scharf nach links, das Auto schoss einen Abhang hinunter und wir rasten auf dem Sand weiter. Bald sanken die Reifen ein und der Wagen drehte sich um die eigene Achse. Es dauerte nur ein paar Sekunden, bis das Auto zum Stillstand kam, aber diese Sekunden dehnten sich für mich wie eine Ewigkeit. Ich musste an den Autounfall denken, bei dem mein Vater ums Leben gekommen war. Danach versuchte ich wieder zu Atem zu kommen. Ich wusste nicht, ob ich Shane umbringen oder die Autotür öffnen und um mein Leben rennen sollte. Als ich zu Shane hinüberschielte, lachte er übers ganze Gesicht.
»Endlich hab ich mich mal so richtig lebendig gefühlt«, sagte er. »Hast du es gespürt? Hast du es in deinen Adern gespürt?«
»Wir hätten beide umkommen können, du Komiker.«
»Halt dich an mich, dann musst du nie sterben.« Shane machte an seiner Seite die Tür auf. »Lass uns gehen.«
»Wohin?«
»Folg mir einfach, okay? Etwas mehr Vertrauen in mich wäre durchaus nicht fehl am Platz.«
»Du bist total krank, Shane. Weißt du das?«
»Schnapp dir die Gitarre. War aufwendig genug, sie zu stehlen. Und jetzt komm mit. Es gibt da einen Aussichtspunkt, den ich dir unbedingt zeigen muss.«
S IEBZEHNTES K APITEL
T HOMAS
A UGUST 1932
T homas McCormack streckt die Hand aus, um die Jazzmusik lauter zu stellen, und blickt dann zu Jack O’Driscoll. »Nimm Molly in die Arme und dreh dich mit ihr«, sagt er. »Lass uns noch mal einen Tanz wagen, bevor meine Mutter zurückkommt.«
Er sieht dem jungen Diener und dem Hausmädchen zu, wie sie beide durch das Zimmer fegen, mit frohen, lachenden Schritten. Molly und Jack erfinden dabei ihren eigenen Tanz, ihre Wangen sind vor lauter Erregung gerötet – weil sie sich in den Armen halten, weil sie unerlaubterweise mitten am Tag miteinander tanzen, wo sie doch eigentlich fegen und schrubben und für ihre gefürchtete Herrin schuften sollten. Aber jede Ecke des Hauses glänzt bereits, die Spitzenvorhänge sind strahlend weiß, alle Zimmer sind so blitzblank, dass Thomas nicht weiß, was die Dienstboten denn noch sauber machen sollten. Doch seine Mutter regiert hier im Haus mit so eiserner Faust, dass er immer wieder ängstlich aus dem Fenster späht, ob sie wohl schon von ihrer Versammlung des Wohltätigkeitsbundes im Rathaus von Blackrock zurück ist.
Seine Mutter weiß nicht, dass er diese sündige Schallplatte besitzt. Er hat sie gestern von dem alten Dr. Thompson geschenkt bekommen, nachdem er so begeistert all die fremden Städtenamen auf dem Radioapparat des Arztes studiert hatte, die dort in Goldbuchstaben aufgemalt sind. Auf einmal legte Dr. Thompson dann den New-Orleans-Jazz auf sein Grammofon. Thomas hatte
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