Wo die verlorenen Seelen wohnen
nicht recht gewusst, ob er dieser Musik wirklich lauschen durfte, weil ihm die Priester in seiner Schule immer sagten, dass Jazzmusik des Teufels sei. Aber der alte Arzt hatte nur gelacht, als Thomas ihm das erzählt hatte, und danach fing er an, ihm von Wechselbälgern und russischen Puppen und Gefahren für die Seele zu erzählen, lauter Sachen, bei denen Thomas ihm nicht folgen konnte.
Aber der Verlockung der Jazzmusik konnte er nur schwer widerstehen. Denn kaum verließ seine Mutter an diesem Tag das Haus, wechselten er und Jack O’Driscoll sich ab und tanzten einen Tanz nach dem anderen mit Molly, dem Hausmädchen.
Die Schallplatte ist zu Ende. Jack löst sich von Molly, macht einen Schritt zurück und verbeugt sich mit gespieltem Ernst vor ihr. Er wendet sich zu Thomas. »Wenn schon, denn schon. Das macht das Kraut jetzt auch nicht mehr fett«, sagt er. »Tanz noch einmal mit ihr. Ich pass auf.« Molly lacht, ihr Gesicht ist vor lauter Aufregung gerötet, als Thomas nach ihren Händen greift und die Musik noch einmal einsetzt.
»Ich könnte ewig dazu tanzen«, sagt sie. »Ich könnte mich noch in siebzig Jahren glücklich zu dieser Musik drehen.«
Thomas wirbelt sie herum. Er weiß, dass er nicht mal ein halb so guter Tänzer ist wie Jack O’Driscoll. Jack und Molly gehören zur Dienerschaft, deshalb stehen sie sozial unter ihm. Aber Thomas fühlt sich ihnen näher als seinen beiden älteren Brüdern. Sein ältester Bruder, Frank, geht bereits jeden Morgen mit dem stolzen Schritt eines Erwachsenen über den Hof. Frank wird einmal alles erben und fühlt sich jetzt schon wie der Herrim Haus. Der mittlere Bruder, Pete, packt viel fleißiger mit an, aber weil er der Mittlere ist – wenn auch nur ein Jahr jünger als Frank –, wird er für immer in einem merkwürdigen Zwischenreich leben, weder Knecht noch ein Mann mit Besitz. Alles, was er arbeitet, vermehrt nur den Reichtum seines Bruders.
Aber die unumschränkte Herrscherin in der Molkerei ist ihre Mutter und sie erwartet, dass jeder in der Familie genau um seinen Platz weiß. Und für Thomas heißt das, nicht mit den Dienstboten zu tanzen, sondern auf dem Betschemel zu knien. Er war vier, als die Leiche seines Vaters am Strand angespült wurde – ein Säufer vor dem Herrn, von dem man sich erzählte, er sei auf dem Weg nach Hause ausgerutscht und ertrunken. Aber ein paar Nachbarn flüsterten auch raunend von Selbstmord, weil ihn in den Kneipen von Blackrock und Kingstown immer alle verspottet hätten. Seine Frau, so hieß es, habe bei ihnen die Hosen an. Bei seiner Beerdigung hatte der Priester dann vorhergesagt, dass sein jüngster Sohn einmal Priester werden und als Missionar in fernen Ländern heidnische Seelen zu Gott hinführen würde. Seither galt das bei seiner Mutter als beschlossene Sache, denn sie wusste, dass diese Berufung den Tod ihres Gatten wettmachte, den Skandal vergessen ließ und der Familie in der Nachbarschaft eine neue Achtung verschaffen würde.
Thomas wirbelt mit Molly durch das Zimmer. Er spürt sie gerne in seinen Armen. Aber ein Mädchen zu mögen, das kommt für ihn nicht in Betracht, wo doch jeder weiß, dass er Priester werden soll. Außerdem ist es offensichtlich, dass Molly nur Augen für Jack hat.
»Irgendein Zeichen von der Herrschaft?«, ruft Molly Jack zu und flüstert dann Thomas ins Ohr: »Deine Mutter ist für mich nämlich der Mensch, der mir von allen Menschen auf der Welt den größten Schrecken einjagt.«
»Ich weiß jemand, der einem einen noch größeren Schrecken einjagen kann.«
»Wer?«
»Der alte Joseph, der für die Nonnen in Sion Hill arbeitet.«
Molly schaudert es bei dem Gedanken an den buckligen Alten, der jeden Morgen zur Molkerei kommt, um mit seinem Eselskarren die Milch für das Kloster abzuholen. Joseph arbeitet bei den Nonnen schon so lange, dass sich keiner an eine Zeit erinnern kann, wo das noch nicht so war. Er erledigt für sie alle schweren, schmutzigen Arbeiten und kümmert sich um die Schweine.
Jack am Fenster lacht: »Der alte Joseph ist harmlos«, sagt er. »Er ist nur nicht ganz richtig im Kopf.«
Thomas weiß, dass es sich bei dem verkrüppelten Stummen um jemand handelt, der, wie seine Mutter sagt, ein »unheilbarer Idiot« ist. Aber jeden Morgen, wenn Joseph in den Hof kommt, kann Thomas spüren, wie der Mann ihn mit offenem Mund anstarrt, als würde er nur auf den richtigen Augenblick warten, um sein lebenslanges Schweigen zu brechen. Dieses Angestarrtwerden wühlt ihn
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