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Wo die verlorenen Seelen wohnen

Wo die verlorenen Seelen wohnen

Titel: Wo die verlorenen Seelen wohnen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Dermot Bolger
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keine Anstalten zu bremsen, sondern trat erst recht aufs Gaspedal und rammte mit dem Hinterteil des Autos das Schaufenster. Es zersprang in tausend Splitter, die auf den Bürgersteig herabregneten. Die Gitarre hing unbeschädigt an ihrem Platz. War das gerade wirklich geschehen? Ich konnte nicht fassen, in was für einen Film ich da geraten war. Shane lachte über mein verschrecktes Gesicht.
    »Ich streng mich an und du sitzt immer noch hier, Joey«, sagte er. »Jetzt sei so nett, spring wenigstens raus und hol die Gitarre.«
    Wieder hatte ich das Gefühl, von ihm auf die Probe gestellt zu werden, und wieder tat ich, was er mir befahl, weil in diesem Moment alles vollkommen unwirklich war. Das war nicht ich, der da durch das Fenster nach der blauen Gitarre griff, oder jedenfalls kein Ich in mir, das mir bis zu diesem Zeitpunkt vertraut gewesen wäre. Einen Augenblick lang befand ich mich in einer Welt, in der keine Regeln galten. Die Alarmsirene, die wir durch das Zerschmettern des Fensters ausgelöst hatten, war ohrenbetäubend laut. Vor dem Pub an der nächsten Ecke sprachen die Türsteher in ihre Walkie-Talkies. Die Polizei konnte jeden Moment da sein. Ich wusste, dass es total falsch war, was wir gerade taten, aber ich ließ mich von Shanes Irrsinn anstecken. Ich schmiss die Gitarre auf den Rücksitz und schaffte es kaum zurück ins Auto, die Beifahrertür stand noch halb offen, da hatte er schon wieder aufs Gaspedal getreten. Wir rasten los. Ein Lastwagen kam uns entgegen und gleich musste es einen Zusammenprall geben, da bog Shane in allerletzter Sekunde in eine für Fußgänger reservierte Seitenstraße ein. Er bog nachlinks ab, sodass wir jetzt auf den Kinokomplex in der Parnell Street zusteuerten. Vor einer halben Stunde noch hatte ich dort neben Niyi auf der Treppe gesessen, aber es fühlte sich an, als wäre das schon eine Ewigkeit her. In der Zwischenzeit war ein Mädchen ums Leben gekommen, hatten wir einen Wagen geklaut, ein Schaufenster zertrümmert und eine Gitarre gestohlen. Trotzdem konnte ich gar nicht aufhören, aus vollem Hals zu lachen, weil Shane auch lachte. Beim Kino bog er rechts ab, wir brausten die Parnell Street entlang, boxten mit den Fäusten gegen das Dach und Shane brüllte, so laut er konnte: »Sattelt die Pferde! Sputet euch! Auf in die Eagle Tavern und den Hellfire Club! Wir kommen! So fühlt sich das Leben richtig lebendig an!«
    »Auf in die Eagle Tavern!«, brüllte ich. Bis mir klar wurde, welche Folgen das nach sich ziehen konnte, was wir gerade getan hatten. Ernüchtert sank ich in meinen Sitz zurück. Ich wollte Shane fragen, wo zum Teufel die Eagle Tavern denn war, aber dann schwieg ich, weil mir plötzlich schlecht war und ich mich von ihm überrumpelt fühlte. Vor allem aber hatte ich Angst. Ich schielte zu ihm hinüber und fragte mich, ob das wirklich derselbe Junge sein konnte, der vor ein paar Stunden noch in seinem Zimmer mit mir Geschichte gelernt hatte. Der Junge, der bei unserer Klassenfahrt zu verängstigt gewesen war, um mit den anderen die Ruinen des Hellfire Club zu durchstreifen. Was, wenn er auf der Straße einen Fußgänger überfuhr und tötete? So schnell, wie er raste, konnte das leicht passieren. Ich hatte keine Ahnung, wohin wir unterwegs waren. Kein Wunder, dass Geraldine versucht hatte, mich vor ihm zu warnen. Shane schien ganz in seine eigenen Gedanken versunken zu sein, während er uns durch ein Gewirr aus Straßen immer weiter in Richtung Norden chauffierte. Ich war noch nie im Norden Dublins gewesen. Aber ich war kein Snob und wusste,dass er sicher besser war als sein Ruf. Mit einem gestohlenen Auto um Mitternacht auf einer Straße in der Nähe des North Strand einen Unfall zu bauen, war trotzdem bestimmt nicht der beste Weg, um mit diesen Vierteln Bekanntschaft zu machen.
    »Halt an, Shane!«, rief ich. »Halt das verdammte Auto an!«
    Er sah mich von der Seite an und grinste. »Ich weiß nicht, was du dir für Sorgen machst. Wir kommen sowieso nicht mehr weit. Die Karre hat so gut wie kein Benzin mehr.«
    »Ich will nach Hause, Shane.«
    »Manchmal muss man von zu Hause fort, um herauszufinden, wer man wirklich ist. Jetzt bleib erst mal schön brav hier neben mir sitzen, bis ich diese Kutsche irgendwo geparkt habe, wo sie vor morgen früh bestimmt keiner findet. Und schnall dich an. Ich kann nicht dauernd auf dich aufpassen.«
    Wir kamen an ein paar Wohnblocks und heruntergekommenen Reihenhäusern aus rotem Backstein vorbei. Rechts von uns lag

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