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Wo die verlorenen Seelen wohnen

Wo die verlorenen Seelen wohnen

Titel: Wo die verlorenen Seelen wohnen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Dermot Bolger
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hättest, auf einem riesengroßen Konzert, sagen wir mal das größte in Europa, zu spielen oder ganz allein für deinen Vater – dann würdest du doch für deinen Vater spielen wollen, oder? Und das kannst du jetzt.«
    Shane klopfte mir auf die Schulter und verschwand dann in der Dunkelheit. Ich sagte darauf nichts. Ich sagte zu niemandem etwas, denn wie hätte ich das tun können, wenn niemand da war? Nur der Wind und das Meer und die fernen Lichter meines Geburtsortes. Aber dann – vielleicht weil ich die Stille mit etwas füllen wollte – fing ich nach einer Weile doch an zu sprechen. Ich war mir nicht sicher, an wen ich mich dabei eigentlich richtete, ich sagte nur die Dinge, die ich immer schon einmal hatte sagen wollen. Dinge, die ich nie einer Menschenseele erzählen konnte, weil das alles viel zu roh und wirr war, um für irgendjemand einen Sinn zu ergeben. Aber es handelte sich um meine wahren und aufrichtigen Gefühle: wie sehr ich mich nach meinem toten Vater sehnte; dass ich so gern auch Musiker werden würde wie er, aber Angst hatte, vielleicht nicht gut genug zu sein; dass sein Tod in Mums Leben eine Lücke hinterlassen hatte, die auch ich nicht hatte füllen können.
    Als mir nichts mehr einfiel, was ich noch sagen konnte, griff ich nach der gestohlenen blauen Gitarre und begann zu spielen, einfach nur für mich, denn für wen sonst hätte ich da spielen können? Ich sang jedes Lied, das ich jemals getextet und komponiert hatte, und ich sang sie alle besser, als ich sie jemals zuvor gesungen hatte. Als ich schließlich geendet hatte, saß ich eine Weile einfach nur im Dunkeln da. Da hörte ich auf einmal Sätze – mir war als kämen sie aus dem Nirgendwo, obwohl sie natürlich aus meinem eigenen Kopf stammen mussten. Eine Stimme flüsterte mir zu: Das war schön von dir, Joey, du hast gut gespielt. Aus dir wird was werden, mein Sohn. Ich blicktenicht auf, aber ich fühlte mich, als wäre mir ein riesiges Gewicht von den Schultern genommen worden.
    Unmittelbar darauf schlug in der Nähe eine riesige Flamme in den Himmel hoch. Shane hatte das geklaute Auto in Brand gesetzt. Vielleicht tat er das, um jede Spur zu verwischen, vielleicht aber auch, damit ich in ihrem Lichtschein leicht zu ihm zurückfand. Für mich war das brennende Auto zwischen den Dünen wie ein großes Leuchtfeuer für meinen Vater, mit dem ich von ihm Abschied nahm. Ich spürte, dass nun alles gut werden würde, dass ich allein in die Welt ziehen konnte. Ich fühlte eine große Ruhe in mir und eine innere Stärke. Dann klemmte ich mir die Gitarre unter den Arm und marschierte zurück zu Shane. Als ich am Auto angekommen war, schüttelten wir uns neben dem Feuer die Hände. Danach beeilten wir uns, so schnell wie möglich von der Insel wegzukommen. Die Flut begann hereinzuströmen, als wir über die hölzerne Brücke gingen, und das Wasser glitzerte im Mondschein so wunderschön, dass ich das Gefühl hatte, durch eine Traumlandschaft zu laufen.

N EUNZEHNTES K APITEL
    S hane
    A UGUST 2007
    I n der Nacht, nachdem sie in Thomas McCormacks Haus gewesen waren, träumte Shane erneut, dass Wassermassen ihn allmählich verschlangen. Doch diesmal bevölkerten raunende Stimmen seinen Traum. Als er aufwachte, herrschte in dem Haus, das an der Stätte des alten Klosters auf dem Sion Hill erbaut war, in allen Räumen Stille. Aber sein Herz schlug so laut, dass er befürchtete, damit seine Eltern in ihrem Schlafzimmer direkt nebenan aufzuwecken. Shane hätte seinem Vater gern von dem alten Mann erzählt, der seinen Großvater gekannt hatte. Als sie noch in Sallynoggin wohnten, hatte er seinem Vater immer alles erzählt, wenn sie abends auf der Wiese gegenüber von ihrem Haus miteinander Fußball gespielt hatten. Aber Shane beschloss, dass es klüger war, nichts zu sagen, denn seine Eltern würden ihn sicher ausschelten, dass er in das Wohnhaus neben der alten Molkerei eingebrochen war, und er würde versprechen müssen, das kein zweites Mal zu tun. Thomas McCormack hatte so unendlich einsam gewirkt, dass es Shane zutiefst verstörte. Trotzdem verspürte er in den darauffolgenden Tagen eine unerklärliche Sehnsucht, zu dem Haus zurückzukehren.
    Am Vormittag traf er sich wieder wie üblich mit Geraldine vor der Stadtbücherei, aber die Lockerheit zwischen ihnen beiden war weg. Das Geheimnis, das sie nun teilten, lastete auf ihnen, und auch, dass sie geschworen hatten, niemandem zu erzählen, dass Thomas McCormack in dem Haus lebte.

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