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Wo die verlorenen Seelen wohnen

Wo die verlorenen Seelen wohnen

Titel: Wo die verlorenen Seelen wohnen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Dermot Bolger
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Lichtern war dein Dad unterwegs, als er starb, Joey, unterwegs nach Hause. Dein Vater ist ein winziger Teil der Geschichte von Blackrock, aber es gibt noch Tausende andere, an die sich keiner mehr erinnert. In einer einzigen Nacht sind dort einmal vierhundert Schiffbrüchige angeschwemmt worden, junge Soldaten, die ihr Leben verloren, als zwei Transportschiffe während eines Sturms gegen die Felsen von Blackrock geschmettert wurden. Im Schiffsbauch waren sie wie in einer Falle gefangen. Die Leichname wurden in einem namenlosen Massengrab auf dem kleinen Friedhof hinter der Esso-Tankstelle an der Merrion Road bestattet. Vor zwei Jahren bin ich dort häufig hingegangen, weil ich niemanden hatte, mit dem ich reden konnte. Jetzt sitz ich da manchmal auch noch und rede mit den Toten.«
    »Niemand kann mit den Toten reden«, sagte ich.
    Shane wandte sich zu mir und schaute mich an. »Was lässt dich da so sicher sein?«
    »Weil es keinen Sinn ergibt.«
    »Drei Mädchen putzen sich stundenlang heraus, weil sie heute Abend ausgehen wollen, sie lachen, treiben Unfug, ziehen sich gegenseitig auf. Eine von ihnen liegt jetzt in der Leichenhalle. Ergibt das irgendeinen Sinn? Es hätte genausogut auch dich oder mich treffen können, Joey.«
    »Ja, so wie du Auto fährst.«
    »Nein, nicht aus irgendeinem Grund. Einfach so, aus reinem Zufall. Das Leben ist ein Roulette, Joey. Der Tod kann uns in jeder Sekunde ereilen. Als wir gerade über die hölzerne Brücke gefahren sind, da hab ich es hören können.«
    »Was?«
    »Ich hab hören können, wie zerbrechlich das Leben ist.« Shane schaute auf die Wellen hinaus. Er sprach so leise, dass ich ihn kaum noch verstehen konnte. »Ich hörte die Reifen des Autos über die Brücke holpern. Ich hörte, wie aufgescheuchte Vögel mit den Flügeln schlugen, ich hörte, wie Kaninchen davonhuschten, ich hörte, wie Füchse den Kopf hoben und lauschten. Ich wusste, worauf sie lauschten, denn ich hörte das Rascheln auch.«
    »Welches Rascheln?«
    »Das Rascheln der herbeigerufenen Toten.«
    »Du hast einen Sprung in der Schüssel, Shane.«
    »Ach, ja? Jetzt erzähl mir nicht, dass du sie nicht auch gesehen hast, wie sie uns nachjagten – wir im Auto, sie hinter uns her in der Luft?«
    »Hast du irgendwas eingeworfen?«
    »Ganz bestimmt hast du sie gesehen, Joey, wie sie sich ums Auto drängten und gegen die Scheiben klopften. Hinter dir waren sie her, hinter dir – aber nicht, um dich zu holen, sondern um dich zu beschützen. All diese toten, verlorenen Seelen, verrückt vor lauter Sorge um dich. Nur eine unermesslich großeLiebe kann sie herbeigerufen haben. Die Liebe deines Vaters. Ich hab ihn zwischen all den anderen gesehen.«
    »Halt endlich mal die Klappe, Shane! Was spinnst du dir da alles zusammen?« Ich hatte so die Nase voll von ihm und seinen ganzen Spielchen und den Lügengeschichten, die er mir da auftischte. Am liebsten hätte ich ihm eine reingeschlagen, aber ich war auch seltsam neugierig geworden.
    »Ich habe das Böse kennengelernt«, antwortete Shane. »Das abgrundtief Böse. Deshalb erkenne ich auch das Gute, das über alle Maßen gut ist. Ich kann nicht glauben, dass du ihn nicht gesehen hast, Joey. Er war draußen vor der Windschutzscheibe und hat verzweifelt versucht, das Auto anzuhalten. Er wollte dir unbedingt das Leben retten. Unsere verrückte Raserei hat ihn herbeigerufen und er ist immer noch da, direkt hinter dir. Ich weiß es, weil ich die Macht habe, die Toten zu sehen. Du brauchst dich nicht umzudrehen, denn offensichtlich fehlt dir diese Gabe. Aber du hast jetzt Gelegenheit, all die Dinge zu sagen, die du deinem Vater immer schon sagen wolltest. Diesmal kann er dich wirklich hören, Joey.«
    Ich wollte Shane einen Lügner und Schwindler nennen, aber wie ich da so in der finsteren Wildnis stand und über die Bucht hinüber auf die Lichter von Blackrock schaute, wusste ich nicht mehr, was ich noch glauben sollte und was nicht. Oder vielleicht war der Gedanke, mein Vater sei gekommen, um mich zu retten, auch einfach so tröstlich, dass ich Shane nur zu gern glaubte. Mit seiner schier unerschöpflichen Energie von vorhin schien es jedenfalls vorbei zu sein. Shane wirkte total erschöpft, als er sagte: »Ich wollte dich nicht erschrecken, Joey, aber es war das einzige Mittel, um ihn herbeizurufen. Ich hab dich hierhergebracht, damit du für ihn spielen kannst. Das hier ist dein Konzert! Gib zu, dass du davon immer geträumt hast. Mal ehrlich, wenn du die Wahl

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