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Wo die verlorenen Seelen wohnen

Wo die verlorenen Seelen wohnen

Titel: Wo die verlorenen Seelen wohnen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Dermot Bolger
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auf die Treppe vor der Schule, wo nur wenig los war.
    »Wer war das, Shane?«, fragte ich. »Echt, Mann, der Alte hat mir einen ziemlichen Schrecken eingejagt.«
    »Was will er denn zurück?«
    »Das hat er nicht gesagt. Er hat nur gesagt, ihr wärt durch das böse Blut in euren Adern miteinander verwandt.«
    Shane stieß ein leises, bitteres Lachen aus. »Klar, wir sind Zwillinge.«
    »Das ist nicht lustig, Shane. Wer ist das?«
    Shane zog ein Pausenbrot heraus. »Er heißt Thomas McCormack und hat sich viele Jahre in Amerika als Obdachloser durchgeschlagen, bevor er ein halb verfallenes Haus in der Castledawson Avenue erbte. Ein paranoider, schizophrener Typ, wenn du mich fragst. Geraldine und ich haben damals den großen Fehler begangen, eines Abends in dieses Haus einzusteigen. Einfach so, nicht um irgendwas zu klauen. Wir dachten, in der Bruchbude würde schon lang keiner mehr wohnen. Er hat uns eine rührselige Geschichte aufgetischt von wegen, er sei todkrank und würde bald sterben. Danach hab ich ihn nur noch zweimal gesehen, aber in den darauffolgenden Monaten hat er mir das Leben zur Hölle gemacht, ist immer wieder vor unserem Haus aufgetaucht und hat gerufen, dass ich ihm was gestohlen hätte.«
    »Was denn gestohlen?«
    »Keine Ahnung. Hätt ich ja glatt gemacht, aber in der Bruchbude gab es überhaupt nichts, was man hätte stehlen können. Freunde dich nie mit einem einsamen Menschen an, Joey, das kann bei denen nämlich zur Obsession werden. Weil sie niemand anders haben, dem sie Vorwürfe machen können, halten sie sich ausschließlich an dich. Ich will ja nicht gleich behaupten, dass er das Feuer gelegt hat, bei dem meine Eltern umgekommen sind. Aber Mum wurde durch ihn allmählich so paranoid, dass sie nicht mehr schlafen konnte. Klar kann jeder mal vergessen, die Pfanne mit dem heißen Frittieröl von der Platte zu nehmen, aber vielleicht wäre das Feuer nicht ausgebrochen, wenn sie nicht dauernd Beruhigungsmittel geschluckt hätte, weil es ihr total auf die Nerven ging, dass er andauernd aufkreuzte und ihr den Kopf mit Lügen vollquasselte.«
    Geraldine saß mit zwei Freundinnen ganz in der Nähe. Ich schielte zu ihr hinüber, aber sie weigerte sich standhaft, in meine Richtung zu schauen, wenn ich mit Shane zusammen war.
    »Okay, und warum belästigt er jetzt mich?«, fragte ich.
    »Er hat diese fixe Idee, dass nur er allein mein Freund sein kann. Er hasst es, wenn ich zu jemand anders eine Beziehung aufbaue. Klar hab ich hier meinen Spaß mit den Kumpels in der Schule, aber enge Freunde hab ich nicht, weil ich weiß, dass der Alte mit allen Mitteln versuchen wird, sie gegen mich aufzuhetzen.«
    »Bist du nie zur Polizei gegangen?«
    Shane schnaubte verächtlich. »Mein Dad hat die Bullen früher immer angerufen, wenn er auftauchte. Sie haben Thomas sogar eine Zeit lang ins Irrenhaus gesperrt, bis er ihnen erfolgreich vorgegaukelt hat, er sei wieder normal. Deshalb konnte er dann wieder in seinen Schweinestall von Haus zurückkehren. Als ich aus England zurückgekommen bin, hab ich stark gehofft, er wäre inzwischen gestorben. Aber seit meiner Rückkehr verfolgt er mich wieder.«
    »Wie soll ich mich denn verhalten?«
    »Beachte ihn einfach nicht weiter. Das kannst du mir glauben, der Alte hat bald sein endgültiges Rendezvous mit dem Tod. Nicht mehr lang, dann ist es für ihn aus und vorbei.«
    Es klingelte. Die Mittagspause war zu Ende. Ein paar Jungs kickten mit einem Tennisball herum, der in unsere Richtung geflogen kam. Shane fing ihn. »Wer das nächste Tor schießt, hat gewonnen«, rief er und stürzte sich in das Spiel. Er dribbelte an zwei Jungs vorbei, zielte dann auf den Abfalleimer, der als Tor diente. Ein paar Jungs brüllten, das würde nicht zählen; andere wollten schnell einen Gegentreffer erzielen, bevor ein Lehrer das Spiel unterbrach. Shane rannte dem Ball hinterher und wirkte dabei völlig heiter und unbeschwert – ein ganz anderer Mensch als der, mit dem ich kurz vorher geredet hatte.
    Das kannst du mir glauben, hatte Shane gesagt. Nur wusste ich nicht mehr, welchem Shane ich glauben sollte, weil es so unterschiedliche gab. Geraldine ging vorbei. Ich hätte sie am liebsten um Rat gefragt, aber wenn ich Shanes Namen fallen ließ, würde sie sofort auf Distanz gehen, wo ich sie doch so gern näher kennenlernen wollte. Ich musste dauernd an sie denken und wenn sie in der Nähe war, egal ob im Klassenzimmer oder auf dem Pausenhof, fühlte ich mich immer so komisch

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