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Wo die verlorenen Seelen wohnen

Wo die verlorenen Seelen wohnen

Titel: Wo die verlorenen Seelen wohnen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Dermot Bolger
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zurückschiebt. Er traut sich immer noch nicht, die Augen aufzuschlagen, weil er Angst davor hat, welches Gesicht er dann vor sich sehen wird. Dann wird er auf die Füße hochgehievt und in den Gang zurückgeschleppt. Erst als er dort gegen die Mauer stößt, öffnet er schließlich die Augen. Er sieht sein eigenes Gesicht vor sich.
    Als die beiden durch die schmale Tür in die Küche treten, blickt Molly auf. »Was macht Joseph denn hier im Haus?«, fragt sie. »Wenn die Herrin das mitkriegen würde.« Dann schaut sie verwirrt Thomas an. »Alles in Ordnung?«
    Seine Augen wirken irgendwie verändert, denkt sie, wie die Augen eines alten Mannes, wie Augen, die eine Prozession von Geistern an sich haben vorbeiziehen sehen.

S IEBENUNDZWANZIGSTES K APITEL
    J OEY
    N OVEMBER 2009
    I ch verabschiedete mich von Bongo Drums im Pausenhof und machte dann die Tür zum Chemielabor auf. Shakes war so in ein Experiment vertieft, dass er kaum aufsah. Die Klasse schaute ihm fasziniert zu, wie immer, wenn Shakes anfing, mit Reagenzgläsern und Bunsenbrennern herumzuhantieren. Dass eine Hand, die so stark zitterte wie die von Shakes, es fertigbrachte eine siedende Flüssigkeit von einem Reagenzglas in ein anderes umzufüllen, kam jedes Mal einem Wunder gleich. Erzählungen von früheren Experimenten mit unverhofften Explosionen machten die Runde, bei denen Shakes die Augenbrauen versengt wurden – doch das schien ins Reich der Märchen zu gehören. Sobald er den Satz »Das ist höchst gefährlich« sagte und sich mit seinen zitternden Fingern ans Werk machte, herrschte jedoch immer gespanntes Schweigen im Chemiesaal. Shane saß in der letzten Reihe. Die anderen Schüler rückten zur Seite, um mir Platz zu machen. Mein inzwischen angestammtes Recht, neben ihm zu sitzen, wurde von allen anerkannt.
    »Shakes zieht wie immer eine große Show ab«, flüsterte Shane mir zu. »Das mit dem Zittern macht er nur, damit wir alle gespannt hingucken.«
    »Das hat doch wohl medizinische Gründe«, sagte ich.
    »So ein Zittern sieht man nur bei Alkoholikern auf Entzug.«
    »Woher weißt du das denn?«
    Shanes Stimme schien aus weiter Ferne zu kommen. »Ich habe genug Säufer und Kneipen und finstere Ecken gesehen«, murmelte er wie zu sich selbst. »Manche sagen, dass mein eigener Vater auch so ein hoffnungsloser Fall war. Das Trinken hat ihn umgebracht.«
    »Der Alkohol hat deinen Vater nicht getötet«, sagte ich scharf. »Es waren die Flammen, als euer Hause brannte.«
    Shakes schien sich durch unsere Stimmen gestört zu fühlen, denn er schaute auf.
    »Vielleicht wollen die Herren uns an der Diskussion teilhaben lassen, die Sie da hinten führen?«
    »Ich merkte gerade an, wie sehr ich Ihre Charakterstärke im Umgang mit Ihrer körperlichen Behinderung bewundere. Sie sind uns darin allen ein großes Vorbild.«
    In Shanes Stimme war kein Sarkasmus zu hören. Der Tonfall war total scheinheilig, eine Stimme, hinter der man sich verstecken konnte. Die erste und oberste Regel in Chemie war, niemals das Zittern von Shakes zu erwähnen. Aber die geheuchelte Aufrichtigkeit in Shanes Stimme ließ ihm keine andere Wahl, als wortlos mit seinem Experiment fortzufahren.
    »Du forderst dein Glück heraus«, flüsterte ich.
    Shane zuckte mit den Achseln. »Na, immerhin war ich pünktlich. Was man nicht von allen hier sagen kann.«
    »Ich hab einen verrückten Alten getroffen.«
    »Das diskriminiert wieder mal die Lehrerinnen.«
    »Er war kein Lehrer. Das Einzige, was ihn noch am Leben zu halten scheint, ist Zorn. Er ist zornig auf dich.«
    »Auf mich?« Shane warf mir einen misstrauischen Blick zu. »Warum auf mich?«
    »Er behauptet, dass du etwas hast, was ihm gehört. Was auch immer es ist, er will es zurück.«
    Shane antwortete darauf nichts, sondern starrte nach vorne zu Shakes, der sein Experiment beendet hatte. Doch ich sah, dass Shane durch meine Bemerkung aus der Fassung gebracht war. Er hob die Hand, um Shakes eine komplizierte Frage zu stellen. Der Lehrer war kurz zuvor noch verärgert gewesen, aber nun war er hocherfreut, dass wenigstens einer in der Klasse verstanden zu haben schien, worum es bei dem Experiment wirklich gegangen war. Er fühlte sich geschmeichelt. Ich wusste, dass Shane Chemie völlig egal war. Er wollte nur etwas Aufschub rausschinden, bevor er mir eine Antwort gab.
    Schließlich klingelte es zur Mittagspause und ich folgte Shane durch die Korridore, die von Leuten nur so wimmelten. Wir gingen nach draußen und setzten uns

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