Wo die verlorenen Seelen wohnen
nervös.
Bongo Drums erschien und brach das Spiel ab, konnte aber der Versuchung nicht widerstehen, den Tennisball selbst einmal zu kicken. Die Jungs riefen ihm ein paar coole Sprüche zu, während sie zurück in ihre Klassen gingen. Er lächelte gutmütig. Ich versuchte mir vorzustellen, wie er damals in der Band meines Vaters das Schlagzeug gespielt hatte. Shane schloss zu mir auf, als ich hineinging. Sein Gesicht war ernst, die Maske guter Laune wieder verschwunden.
»Wenn es dir lieber ist, dass wir nichts mehr zusammen unternehmen, ist das für mich auch in Ordnung«, sagte er.
»Nein«, antwortete ich, weil ich nicht recht wusste, was ich darauf sagen sollte. Ich fand nicht die richtigen Worte, um mein wachsendes Unwohlsein zu beschreiben. »Ich meine, wir sind doch Freunde.«
Er lächelte. »Du und ich, Joey, wir sind uns näher als Freunde. Ich finde, es ist der Zeitpunkt gekommen, an dem wir uns mit einem Messer die Handgelenke ritzen und Blutsbrüder werden sollten.«
A CHTUNDZWANZIGSTES K APITEL
S hane
A UGUST 2007
G eraldine und Shane vermieden es, sich am Tag nach ihrem zweiten Besuch im Haus von Thomas McCormack über den Weg zu laufen. Die Verantwortung, die sie beide verspürten, bedrückte sie. Niemand sonst wusste von dem sterbenden alten Mann. Geraldine quälte sich ununterbrochen mit Fragen herum. Wie lang es wohl noch dauerte, bis Thomas an seinem Krebs starb? Würden seine Schmerzen nicht unerträglich werden, trotz der Tabletten? Und wenn man ihn dann tot in dem Haus fand, würden sie da nicht Schwierigkeiten wegen unterlassener Hilfeleistung bekommen?
Shane fiel es leichter, Geheimnisse für sich zu behalten, weil seine Eltern ihm auch so vieles nicht erzählten. Wie wenig Geld sie hatten, zum Beispiel. Wie sehr sie darauf hofften, einen großen Lottogewinn zu machen, zum Beispiel; er hatte im Mülleimer nämlich zufällig Lottoscheine entdeckt. Was das für durchgestrichene Zahlen waren, deren Abdruck immer wieder auf den Zeitungsseiten zu erkennen war. Am letzten Abend, als er von der Expedition in Thomas’ Haus zurückgekommen war, hatten seine Eltern sich mit einer solchen Heftigkeit gestritten, es waren so die Fetzen geflogen und ihre Wut aufeinander war so groß, dass er richtig Angst bekommen hatte. Der Streitdauerte bis zum frühen Morgen. Shane lag wach im Bett und fantasierte sich alle möglichen Mittel und Wege zusammen, egal wie abenteuerlich, um genug Geld zu beschaffen, damit in dieses neue Haus, das er hasste, endlich Frieden einkehrte.
Um acht Uhr abends schickte ihm Geraldine schließlich eine SMS , in der sie ihn fragte, ob sie sich nicht vor der Bücherei treffen könnten. Als er hinkam, sagte sie ihm, sie könne die Sache mit Thomas nicht länger vor ihrer Oma verschweigen, ihr sei das Ganze viel zu unheimlich. Außerdem wüsste ihre Oma auch, wie man für ihn am besten Hilfe organisieren könne. Geraldine hatte damit natürlich völlig recht, aber Shanes Gedanken waren den ganzen Tag mit einer solchen Obsession um den Brunnen im Keller von Thomas’ Haus gekreist, dass er nicht mehr vernünftig denken konnte. Es war, als würde in ihm ein Schalter umgelegt werden. Auf einmal brüllte er Geraldine an und beschimpfte sie im selben Tonfall, den er bei seinem Vater während der nächtlichen Auseinandersetzungen mit seiner Mutter hörte.
Shane war davon selbst schockiert, aber es hatte auf einmal eine riesengroße Wut von ihm Besitz ergriffen. Beleidigungen und wüste Beschimpfungen strömten aus seinem Mund hervor, bittere Anklagen. Er nannte sie eine Schlampe und Verräterin. Wahrscheinlich war er insgeheim schon immer neidisch gewesen, dass Geraldine so glücklich und zufrieden bei ihrer Oma lebte. Aber das reichte nicht aus, um seine riesengroße Wut zu erklären. Ein Gefühl der Panik breitete sich bei der Vorstellung in ihm aus, es könnte irgendjemand von Thomas’ Anwesenheit in dem Haus erfahren, bevor er dorthin noch einmal zurückgekehrt war. Es kam ihm vor, als würde er damit die einzige Chance verspielen, die er hatte – egal, wie unwahrscheinlich oder abergläubisch sich das vielleicht anhörte –, um dem Streit seiner Eltern ein Ende zu bereiten.
Er wollte Geraldine nicht mehr weiter anschreien. Er wollte am liebsten die Arme um sie legen und sie um Verzeihung bitten. Aber dafür war es zu spät – sie drehte sich um und rannte davon. Shane fühlte sich benommen. Ihm war mulmig zumute. Vor der verschlossenen Bücherei war keine Menschenseele
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