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Wo die verlorenen Seelen wohnen

Wo die verlorenen Seelen wohnen

Titel: Wo die verlorenen Seelen wohnen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Dermot Bolger
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zu sehen, aber trotzdem fühlte er sich nicht allein. Er spürte, dass er beobachtet wurde, und das machte ihn so unruhig, dass er es dort nicht länger aushielt. Er überlegte erst, ob er Geraldine nachrennen sollte, aber dann trieb es ihn mit unerklärlicher, unüberwindlicher Macht in Richtung Main Street. Er kam zur Rock Road, die er trotz des starken Verkehrs hastig überquerte, um weiter zur Castledawson Avenue zu gelangen und zu dem Haus, das an ihrem Ende stand.
    Eine schwarze Katze verzog sich von der Tür, als er die zwei Stufen hochging und dann mit dem Türklopfer heftig pochte. Er nahm nicht mehr den Umweg über die Mauer und das Küchenfenster. Wenn seine Eltern herausbekamen, dass er in das Haus eingebrochen war, bekäme er sicherlich für den Rest der Ferien in Sion Hill Hausarrest, wo er sich sowieso schon wie im Gefängnis fühlte. Er klopfte so lange weiter, bis er endlich Schritte die Treppe herunterschlurfen hörte. Schwerfällig wurde der eingerostete Riegel zurückgeschoben und der Schlüssel im Schloss umgedreht. Die Tür ging ächzend einen Spalt auf. Thomas spähte heraus.
    »Geraldine will ihrer Großmutter alles erzählen«, sagte Shane. »Dann bekommen Sie eine richtige medizinische Versorgung.«
    Thomas nickte langsam. »Ich brauche keine Hilfe. Ich will allein gelassen werden und hier in Ruhe sterben. Dafür muss ich für mich sein. Ihr habt mich durch euern Einbruch dabei gestört.«
    »Haben Sie keine Angst zu sterben?«
    Der Greis schaute einen Augenblick in den Abendhimmel. »Ich hatte schon viele Male Angst davor zu sterben. Jeder hat Angst, wenn seine Zeit gekommen ist. Wir tun dann alles, um uns noch etwas länger ans Leben klammern zu können. Die Menschen sehnen sich nach Unsterblichkeit – aber Unsterblichkeit kann eine sehr einsame, quälende Sache sein.«
    Im letzten Abendlicht der untergehenden Sonne sah Shane, wie krank und müde Thomas war. Seine Augen waren rot entzündet, als hätte er seit vielen Jahren nicht mehr geschlafen.
    »Geh«, sagte der Greis. »Ich fühle mich einsam und Einsamkeit ist eine gefährliche Verfassung. Du hast hier nichts zu suchen. Verdammt noch mal, geh und lass mich allein.«
    Thomas wollte die Tür schließen, aber seine Hand zitterte so stark, dass er es nicht schaffte, sie zuzuschieben, nicht einmal die wenigen Zentimeter. Er schien von starken Schmerzen gequält zu werden. Ihn in diesem Zustand allein zu lassen, war ein Verbrechen. Aber Shane hatte noch andere, selbstsüchtigere Gründe, weshalb er nicht gehen wollte.
    »Lassen Sie mich noch einmal herein«, sagte er. »Bitte. Ich muss Sie unbedingt noch was fragen.«
    Der alte Mann zögerte, als würde er in sich selber einen Kampf ausfechten, und öffnete dann widerstrebend die Tür. Auf dem Rugbyfeld des Blackrock College war ein Mann auf einer großen Rasenmähmaschine unterwegs, aber kaum hatte Shane das Haus betreten, schien dieses Geräusch wie aus einer anderen Welt zu kommen. Thomas schloss schnell die Tür und drehte den Schlüssel im Schloss um.
    »Stell deine Frage und dann geh«, sagte Thomas. »Ich bin älter und erschöpfter, als du dir das vielleicht vorstellen kannst.«
    Shane schwieg. Er kam sich auf einmal kindisch vor. »Sie haben gesagt, dass Sie sich als Junge in dem Keller einmal etwas gewünscht haben. Sie haben gesagt, dass dieser Wunsch in Erfüllung gegangen ist.«
    Der alte Mann setzte sich müde und traurig auf die Treppe, schüttelte den Kopf und murmelte etwas vor sich hin. Schließlich blickte er auf.
    »Ich wusste es vom ersten Moment an, als ich dich sah. Sie wussten, dass du nicht fähig sein würdest, der Versuchung zu widerstehen.«
    »Von wem reden sie?«
    Statt einer Antwort sagte der alte Mann: »Wenn du einen Wunsch frei hättest, was würdest du dir dann wünschen?«
    »Ich habe Sie etwas gefragt.«
    »Ich hab dir auch eine Frage gestellt, eine viel wichtigere. Was wünschst du dir von ganzem Herzen? Als ich so alt war wie du, wusste nur ein Einziger, dass es hier im Keller einen Brunnen gibt – ein stummer Krüppel namens Joseph.«
    »Und woher wusste er es?«
    »Je länger man ein Geheimnis in sich verschlossen hält, desto schwerer wiegt es. Vielleicht war es einfach so, dass es unbedingt rausmusste, unbedingt jemand anvertraut werden musste, aber dieser Mensch sollte jemand sein, bei dem das Geheimnis bis zu seinem Tod sicher verwahrt sein würde, um dann mit ihm zu sterben. Wer hätte sich dafür besser geeignet als ein buckliger, stummer

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