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Wo die verlorenen Seelen wohnen

Wo die verlorenen Seelen wohnen

Titel: Wo die verlorenen Seelen wohnen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Dermot Bolger
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Junge, der nie richtig zur Schule gegangen war? Für den Mann, der damals als Junge Henry Dawson die Kehle durchgeschnitten hatte, war keiner besser geeignet als Joseph. Denn Joseph würde das Geheimnis nie ausplaudern können.«
    Thomas stand auf. Er schien um Atem zu ringen. Shane hatte Angst, dass er vor seinen Augen zusammenbrach.
    »Die alten Leute hier in Blackrock haben immer gesagt, Michael Byrne hätte nie sein Haus über dieser Quelle errichtendürfen. Schon in heidnischen Zeiten stand sie im Ruf, alles heilen zu können, von Blindheit bis Unfruchtbarkeit. Später kamen die Pilger von weit her und ließen neben ihr Stofffetzen von ihrer Kleidung zurück, die sie an einen verkrüppelten Busch knoteten. Man konnte bei ihr um die Erfüllung aller Wünsche bitten, selbst die dunkelsten. Aber nur wenige wussten, welcher Preis dafür gezahlt werden musste, damit ein Wunsch in Erfüllung ging.« Thomas wirkte noch trauriger und müder. »Geh, junger O’Driscoll! Du hast dein ganzes Leben vor dir. Das sollte doch jedem reichen.«
    »Ich kann nicht mehr mit anhören, wie sich meine Eltern immer streiten. Wenn wir mehr Geld hätten, wäre das nicht so.«
    Der Greis sah hoch. »Glaubst du wirklich, dass Geld deine Eltern glücklich machen wird?«
    »Deswegen streiten sie doch dauernd.«
    »Du weißt nicht, worüber sie streiten. Welche Kräfte von ihren Gedanken Besitz ergriffen haben.« Thomas deutete mit seinem Stock auf die verschlossene Tür. »Dein Großvater war einmal mein Freund. Er war der letzte richtige Freund, den ich hatte. Siebzig Jahre lang hatte ich keinen richtigen Freund mehr. Ich habe in größter Einsamkeit gelebt. Drum sag ich dir jetzt, beim Grab deines verstorbenen Großvaters, sperr die Tür da auf und verschwinde verdammt noch mal aus diesem Haus.«

N EUNUNDZWANZIGSTES K APITEL
    J OEY
    N OVEMBER 2009
    A n meinem ersten Tag am Stradbrook College hatte ich mir nichts sehnlicher gewünscht, als mit Shane befreundet zu sein. Jetzt aber – nachdem ich in der Nacht, die mit der Autofahrt nach Bull Island geendet hatte, seine wilde, gefährliche, unheimliche Seite kennengelernt hatte – wollte ich nicht mehr sein »Blutsbruder« werden, wie er es nannte. Ich hatte das Gefühl, in seiner Nähe zu ersticken. Ich wollte nicht immer nur ein Schattendasein neben ihm führen. Klar war mir die Freundschaft mit ihm irgendwie immer noch wichtig, aber was anderes war mir jetzt viel wichtiger. Jeden Tag war ich stärker in Geraldine verknallt, ich musste ununterbrochen an sie denken. Mit ihr wollte ich meine Zeit verbringen, nicht mit Shane.
    Abends fiel es mir schwer einzuschlafen, weil in meinem Leben auf einmal so viel los war, und ich musste das alles erst einmal innerlich auf die Reihe kriegen. Zu viele widerprüchliche Gefühle, mit denen ich mich nicht so recht auskannte. Ich gewöhnte mir an, abends noch mal rauszugehen, so um elf Uhr herum, und frische Luft zu schnappen. Mum gefiel das überhaupt nicht, aber sie ließ mich trotzdem machen, weil sie wusste, wenn ich nicht noch mal Auslauf hatte, würde ich die halbe Nacht in meinem Zimmer sitzen und Gitarre spielen.Ich fühlte mich unerträglich eingezwängt. Aber durch mein Herumstreunen wurde es oft auch nicht besser. An fast jeder Straßenecke stand ein Liebespaar. Ich brauchte bloß von Brusna Cottages auf die Hauptstraße abzubiegen und schon waren sie nicht zu übersehen: all die supercoolen Jungs, zwei oder drei Jahre älter als ich, die vorm The Wicked Wolf Pub standen, aus dem laute Musik dröhnte. Ihre Lederjacken hatten sie lässig über die Schulter geworfen, im anderen Arm hielten sie ein supertolles Mädchen. Jungs, die selber richtig Geld machten oder reiche Daddys hatten. Alle Mädchen wirkten unglaublich hübsch und sexy und alle Jungs unglaublich selbstbewusst.
    Mein Vater hatte unser kleines Häuschen damals für eine lächerlich geringe Summe gekauft, kurz bevor ich auf die Welt kam. Inzwischen war Brusna Cottages an allen Seiten von Neubauten eingekreist. Blackrock war mein Geburtsort, hier war ich zu Hause, aber jetzt an diesen Abenden hatte ich auf einmal das Gefühl, als würde ich dort gar nicht dazugehören. Als wäre ich ein Fremder. Ich ging die Temple Road entlang, wo ich dann stehen blieb und durchs Fenster in die Tonic Bar schaute, um die reichen jungen Typen zu beobachten, die reiche Mädchen anmachten. Sie hingen auf Ledersofas herum und lachten. Mit Geraldine wäre ich auch gern hierher gegangen, wenn ich den Mut

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