Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Wo die verlorenen Seelen wohnen

Wo die verlorenen Seelen wohnen

Titel: Wo die verlorenen Seelen wohnen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Dermot Bolger
Vom Netzwerk:
und das Geld gehabt hätte, sie zu fragen. Aber ich besaß weder das eine noch das andere und wusste, dass wir mit Mums Geld gerade so über die Runden kamen. Solche Späße würde ich mir erst leisten können, wenn ich selbst Geld nach Hause brachte.
    Es gab auch andere Mädchen in meiner Klasse, die ich hätte fragen können, aber ich wollte nur Geraldine. Sie war der Grund, weshalb ich diese nächtlichen Spaziergänge unternahm, immer noch weiter die Temple Road entlang, an der Kircheund den Gebäuden von Canada Life vorbei bis zur vierspurigen Schnellstraße und dann wieder zurück durch die Newtown Avenue, wo es deutlich ruhiger wurde, wenn die vielen Autos erst einmal auf die Seapoint Avenue abgebogen waren.
    Allein und gedankenverloren marschierte ich immer vor mich hin, bis ich die schmale Einbahnstraße erreichte, in der Geraldine wohnte. Ich wusste, dass es etwas verrückt war, was ich da tat, aber ich mochte es einfach, mich ihr eine Weile nahe zu fühlen, bevor ich umkehrte und nach Hause ging. Ich stellte mich kurz in eine Durchfahrt auf der anderen Straßenseite und schaute zu dem Garten hinüber, in dem an einem Baum eine Hängematte hing. Für mich war das der wunderbarste Ort auf der Erde. Ich hoffte nur, dass Geraldine mich nicht doch eines Abends bemerkte.
    Als ich mich an diesem Dienstagabend ihrem Haus näherte, knapp eine Woche nach unserer Geschichtsarbeit, bemerkte ich, dass in der schmalen Durchfahrt bereits jemand stand und wie sonst ich zu Geraldines Haus schaute. Ich überlegte, ob ich umkehren sollte, aber meine Neugier – oder vielleicht auch eine gewisse Befürchtung – ließ mich weitergehen. Tatsächlich, da stand jemand reglos in der dunklen Durchfahrt und schaute zu einem erleuchteten Fenster im Haus hoch. Geraldines Zimmer. Er hatte mich noch nicht bemerkt. Zuerst dachte ich, es sei Shane, aber als der Mond hinter einer Wolke hervorschien, erkannte ich den alten Mann, der mich vor der Schule angesprochen hatte. In sein Gesicht war eine solche Einsamkeit eingegraben, dass es schmerzte. Plötzlich drehte er den Kopf und war so überrascht wie ich, dass wir uns hier wieder begegneten. Von seinem Zorn war nichts mehr zu spüren. Er wirkte sehr verletzlich, als er an seinem Stock in Richtung Newtown Avenue davonhumpelte. Ich folgte ihm und kam mir dabei vor wieein Hund, der einen anderen Hund aus seinem Revier vertreibt, obwohl ich ja dasselbe tat wie er und auch kein größeres Anrecht darauf hatte, nachts vor Geraldines Haus zu stehen. Aber er war so alt, dass ich es bei ihm richtig peinlich und schlimm fand. Ich packte ihn am Arm.
    »Was treiben Sie hier?«
    »Lass mich!« Er schüttelte meine Hand ab. »Was weißt du denn schon.«
    »Hier wohnt Geraldine. Dass Sie sie bloß nicht belästigen.«
    Der alte Mann blieb stehen und musterte mich. »Liebst du sie?«
    »Das geht Sie nichts an.« Ich wurde rot.
    »Wenn du sie liebst, dann schütze sie vor ihm. Er nimmt einem alles weg.«
    »So ein Quatsch. Was hat Shane Ihnen denn gestohlen?«
    »Komm mit mir und ich erzähl dir alles.«
    »Warum nicht hier? Was soll ich bei Ihnen?«
    »Du würdest es mir hier nicht glauben. Ich wohne in dem alten Haus an der Castledawson Avenue. Ich leg dir einen Schlüssel an die Hintertür. Wenn du so weit bist, dass du glaubst, die Wahrheit verkraften zu können, dann komm zu mir. Aber bis dahin lass mich in dieser Vorhölle allein.«
    Ein Auto bremste neben uns ab. Der Fahrer schien zu vermuten, dass ich den alten Mann belästigte. Aber Thomas McCormack reagierte nicht auf die Rufe des Mannes. Er stützte sich schwer auf seinen Stock und ging langsam davon. Den schwarzen Filzhut hatte er tief ins Gesicht gezogen.

D REIßIGSTES K APITEL
    S hane
    A UGUST 2007
    S hane musste nichts anderes tun, als die Haustür aufzusperren und in die Sommernacht hinauszutreten. Aber irgendetwas ließ ihn zögern. Nicht nur Mitgefühl mit Thomas, der todkrank war. Auch Neugierde. Er ertrug es nicht, das Haus zu verlassen, ohne mehr erfahren zu haben.
    »Können Sie mir nicht zeigen, wie das so ist, wenn ich mir im Keller etwas wünsche?«, fragte er.
    »Ein Teil von mir sehnt sich danach, dir das zu erlauben«, flüsterte Thomas, der noch immer auf der Treppe saß. »Aber ein anderer Teil von mir fleht dich an, ganz schnell wegzurennen. Siehst du? Ich kenn mich noch nicht mal in mir selbst aus. Die Ärzte haben immer behauptet, ich hätte jede Menge fremder Persönlichkeitsanteile in mir.«
    »Was bedeutet

Weitere Kostenlose Bücher