Wo die verlorenen Seelen wohnen
ihn.
»Wir müssen über die Mauer klettern«, sagte sie zu den beiden Polizisten, während sie aus dem Auto ausstiegen. »Ich kann durch das schmale Fenster einsteigen und dann die Hintertür öffnen.«
Aber sie achteten nicht darauf, was sie sagte, sondern gingen einfach die Stufen zur Haustür hoch und klopften, obwohl sie ihnen klarzumachen versuchte, dass Thomas nicht antworten würde. Noch nie war ihr eine Nacht so still vorgekommen. Es war, als würde die Dunkelheit selbst aufmerksam dem Klopfen lauschen. Dann kam einer der Polizisten zurück, um aus dem Auto Werkzeug zu holen, mit dem er die Tür gewaltsam öffnen konnte. Sie bohrten ein Loch in das Holz. Shanes Vater rief mehrmals laut nach seinem Sohn. Schließlich gab das Schloss nach und die schwere Haustür ging ächzend auf. Die Polizisten leuchteten mit ihren Taschenlampen in die finstere Eingangshalle hinein.
»Da ist niemand, sonst wäre er ja inzwischen aufgetaucht«, sagte Shanes Vater bestimmt, wie um sich selbst Mut zuzusprechen. »Wir haben genug Lärm gemacht, um Tote aufzuwecken.«
Doch sogar die Polizisten schienen zu zögern und betraten das Haus nicht sofort. Die Finsternis hatte etwas so Bedrückendes und Unheimliches, dass sie alle fröstelten. Dann kam Bewegung in die Schatten. Shanes Vater rief laut den Namen seines Sohnes. Aber es war nur eine schwarze Katze, die an ihnen vorbei aus dem Haus huschte.
Geraldine hielt es nicht länger aus. Sie musste unbedingt wissen, ob Shane hier war und wie es ihm ging. Sie stürmte die Treppe hinunter in das Souterrain, wo sich die Küche befand. Ihre Großmutter rief ihr nach, sie solle zurückkommen, und Shanes Vater rief noch einmal laut den Namen seines Sohnes. Die Polizisten rannten hinter Geraldine her und leuchteten mitihren Taschenlampen, damit sie nicht stolperte. Als Geraldine die Küche betrat, blieb sie erschrocken stehen, weil es in dem Raum so eiskalt war. Die vier Erwachsenen folgten ihr. Es war lange her, dass so viele Personen den Fuß in dieses Haus gesetzt hatten.
»Hier ist niemand«, sagte einer der Polizisten. »Du gehst jetzt mit deiner Großmutter hoch, Mädchen, und wartest im Auto. Ich verspreche dir, dass wir jeden Raum durchsuchen werden, um ganz sicherzugehen.«
Er ließ den Strahl seiner Taschenlampe einmal durch die Küche wandern, um zu zeigen, dass sie leer war, und wandte sich schon zum Gehen, als Geraldine aufschrie.
»Was ist?«, fragte er.
»Leuchten Sie noch mal da unten in die Ecke. Auf den Türrahmen.«
Zuerst wusste der Polizist nicht, was sie meinte. Dann senkte er den Strahl, sodass er direkt über dem Boden auf die offene Tür fiel, hinter der der Gang in den Keller führte. Ihre Großmutter versuchte noch, sie zurückzuhalten, aber Geraldine stürzte bereits dorthin. Vier Finger hielten den Türrahmen umklammert. Jemand war in dem Gang zusammengebrochen. Er musste verzweifelt versucht haben, in die Küche zu gelangen, und hatte sich deshalb am Türrahmen festgekrallt, während ein anderer ihn in den Keller zurückzerren wollte.
Geraldine kniete sich neben die Tür. Sie flüsterte Shane zu, dass er jetzt sicher war, während sie seine Finger von dem Türrahmen löste. Doch dann zog sie ihre Hand erschrocken weg, denn die Finger gehörten nicht zu Shane. Es war Thomas, der versucht hatte, sich dort festzuklammern, bevor er ohnmächtig zusammengebrochen war. Sein Gesicht wirkte wie versteinert. Als die Polizisten in den Gang hineinleuchteten, war dahinterShanes Körper zu erkennen. Auch er hatte das Bewusstsein verloren. Er schien gestürzt zu sein und hatte sich dabei den Kopf angeschlagen. Doch er hatte nicht aus dem Keller zu fliehen versucht. Seine Arme waren fest um die Beine des alten Mannes geschlungen, als wollte er ihn in den Keller zurückzerren, oder als hätte er versucht, von ihm etwas Gestohlenes zurückzuerhalten.
D REIUNDDREIßIGSTES K APITEL
J OEY
N OVEMBER 2009
I ch stand auf und stellte mich neben Geraldine an das Geländer. Sie sah mich an.
»Wir haben Shane und Thomas bewusstlos in dem alten Haus an der Castledawson Avenue gefunden«, sagte sie. »Drei Tage lang lagen beide im Vincent’s Hospital im Koma, wie zwei Boxer, die sich gegenseitig k.o. geschlagen haben. Es war schrecklich, Shane so halb tot daliegen zu sehen.«
Ich legte den Arm um Geraldine. Ich spürte, dass sie das alles noch nie jemandem erzählt hatte. An Shanes Körper war bis auf eine Beule an der Stirn keine Verletzung zu erkennen, aber die Ärzte
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