Wo die verlorenen Seelen wohnen
verschwunden. Unschlüssig stand ich noch eine Weile da, verwirrt und wütend. Aber ich spürte auch immer noch ihren Kuss auf den Lippen.
V IERUNDDREIßIGSTES K APITEL
J OEY
N OVEMBER 2009
B evor sie mich auf der Veranda von Starbucks geküsst hatte, war Geraldine für mich unerreichbar gewesen, aber jetzt hatte sich das geändert. Sie schien mich zu mögen und ich wollte sie unbedingt wieder küssen. Aber da spielte jemand ein Spielchen mit uns und ich wusste nicht, wer es war. Der Brief konnte genauso gut von dem alten Mann wie von Shane stammen. Als ich Thomas vor Geraldines Haus angetroffen hatte, konnte er den Brief schon gut eingeworfen haben. Warum versuchte er, sich in mein Leben einzumischen?
Donnerstag in der Schule spürte Shane, dass etwas vorgefallen sein musste, weil Geraldine so auffällig jeden Kontakt mit mir vermied. Während ich in der Klasse umherguckte, musste ich an meine alte Schule und das Mobbing dort denken. Vielleicht machte sich hier jemand über mich lustig, vielleicht lachten sie ja heimlich über mich, dass das mit dem Gedicht, das sie mir untergeschoben hatten, gleich so prima geklappt hatte. Ich konnte nicht aufhören, mir solche wilden Geschichten auszumalen. Wie gern hätte ich jemand davon erzählt. Ich wusste nicht mehr, ob ich Shane trauen konnte, zugleich war er der Einzige, den ich um Rat fragen konnte, mein einziger wirklicherFreund an der Schule. Aber das war auch deshalb so, weil er es nicht zuließ, dass ich mich mit anderen anfreundete. Sobald ich ein Gespräch mit jemand anfing, drängte sich Shane dazwischen, sodass sie sich schließlich mit ihm unterhielten und nicht mit mir. In den Augen der anderen waren Shane und ich unzertrennlich. Ich hatte das Gefühl, dass sie mich gar nicht als eigene Person wahrnahmen, so sehr beherrschte Shane mein Leben.
Als er mich fragte, was ich denn am Mittwochnachmittag gemacht hätte, wich ich einer Antwort aus und erzählte ihm stattdessen von den alten Demotapes, die Bongo Drums bei sich auf dem Speicher gefunden hatte. Shane war sofort Feuer und Flamme. Ich sollte Bongo unbedingt bitten, sie mal auszuleihen. Meine Mutter würde sich bestimmt total freuen, die Stimme meines Vaters wiederzuhören. Ich war mir da nicht so sicher. Und was, wenn die Lieder nicht so gut waren, wie ich mir das immer ausgemalt hatte? Ich beschloss, meiner Mutter davon zu erzählen und sie am Abend um Rat zu fragen.
»Stell dir vor, Mum, ein Lehrer von mir hat auf seinem Speicher alte Demotapes von Dad gefunden.«
Mum schaute von ihrem Kreuzworträtsel auf. »Tatsächlich?«
»Er war bei ein paar Auftritten als Schlagzeuger dabei. Ich weiß nicht … ich bin mir nicht sicher, ob du seine Stimme wiederhören willst?«
Mum legte den Stift weg. »Ich höre seine Stimme oft«, sagte sie. »Ich höre sie in der Art und Weise, wie du manchmal sprichst, und jedes Mal, wenn du lachst.«
»Aber das ist doch nicht dasselbe.«
»Wie heißt denn dein Lehrer?«
»Mr Quinn. Wir nennen ihn Bongo Drums.«
»Bongo Drums.« Sie lachte. »Kein schlechter Name für Ben Quinn. Ich erinnere mich noch gut an ihn. Er hatte einentief herabhängenden Schnurrbart und schwärmte immer von deutschen Frauen. Und er konnte einem echt die Ohren abquasseln.« Sie langte über den Tisch nach meiner Hand. »Wenn Ben Demotapes hat, brauchst du mich nicht um Erlaubnis fragen, ob du sie anhören darfst.«
»Aber ich fände es schön, wenn wir sie zusammen anhören.«
Mum schüttelte den Kopf. »Die Lieder deines Vaters würden in mir zu viel aufwühlen, Joey. Nach seinem Tod hatte ich eine sehr, sehr schwere, sehr traurige Zeit. Ich musste stark kämpfen, bis ich mich aus diesem schwarzen Loch herausgearbeitet hatte. Aber jetzt bin ich mit meinem Leben zufrieden.« Sie beugte sich wieder über ihr Kreuzworträtsel. »Ich finde es schön, dass du dir die Musik deines Vaters jetzt mal anhören kannst. Aber mach es in deinem Zimmer und setz dabei die Kopfhörer auf. Ich würde es nicht aushalten, seine Musik zu hören. Bitte versteh das, Joey. Versprich mir, dass du dich daran hältst.«
Mum wirkte am Abend nach der Arbeit immer sehr erschöpft. Jeden Samstag arbeitete sie eine Extraschicht, damit wir etwas mehr Geld hatten. Ich bot ihr immer an, mir auch einen kleinen Nebenjob zu suchen, um ein bisschen was beizusteuern, aber sie wollte nicht, dass ich vom Lernen abgehalten wurde. Als ich jetzt in ihr müdes Gesicht sah, spürte ich die Verantwortung, in meinem Leben später
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