Wo die verlorenen Seelen wohnen
waren sich nicht sicher gewesen, ob er jemals wieder aufwachen würde, und wenn ja, ob er danach im vollen Besitz seiner geistigen Fähigkeiten sein würde. Nacht für Nacht fiel der Puls bei Thomas plötzlich so stark ab, dass man jeden Augenblick mit seinem Tod rechnete. Immer wenn dies geschah, verlangsamte sich Shanes Puls ebenfalls lebensbedrohlich. Niemand konnte sich erklären, weshalb ein gesunder Junge auf einmal dem Tod so nahe war.
»Ich hab mir große Vorwürfe gemacht«, sagte Geraldine. »Shane war damals eher ein Feigling, aber als ich in das Haus eingestiegen bin, ist er mir nach.«
»Du musst dir keine Vorwürfe machen«, sagte ich. »Shane hat ja überlebt.«
Geraldine sah mich wieder an. »Ich weiß, es klingt seltsam, Joey, aber ich bin mir da nicht so sicher.«
»Wie meinst du das?«
»Nach drei Tagen ist er aufgewacht. Alles wirkte bei ihm ganz normal. Nur seine Augen … die wirkten älter, als gehörten sie gar nicht ihm. Seine Eltern haben ihn dann mit nach Hause genommen. Aber sein Gehirn muss bei dem Sturz doch beschädigt worden sein, denn als ich ihn später besuchte, war er nicht mehr derselbe Junge. Er war nicht der, den ich liebte.«
»Was ist mit Thomas passiert?«
»Er ist am selben Tag wie Shane aus dem Koma aufgewacht und fing sofort an zu wüten und zu toben. Die Ärzte stellten dann fest, dass er bereits eine lange Krankengeschichte hinter sich hatte: Aufenthalte in Irrenhäusern, Wahnvorstellungen, Schizophrenie. Immer wieder tauchte er bei mir an der Haustür auf, redete wirres Zeugs und wollte mich unbedingt sehen. Ein paarmal hat Oma sogar die Polizei gerufen. Und dann passierte etwas wirklich Merkwürdiges.«
»Was denn?«
Geraldine schaute auf die Bucht hinaus. »Alle in Sion Hill wussten, wie schlimm sich Shanes Eltern fast jeden Abend stritten. Aber noch nie war es bei ihnen so hoch hergegangen wie an dem Abend, als Shane und sein Vater nach Hause kamen und auf einmal Thomas am Küchentisch saß. Man erzählt sich, dass Shanes Mutter nicht aufhörte zu schreien und immer wieder beteuerte, Thomas sei eigentlich ihr Sohn. Offensichtlich hat dann Shane nach einem Küchenmesser gegriffen und versucht, Thomas damit die Kehle aufzuschlitzen. Shanes Vater zerrte sie auseinander, schmiss Thomas hinaus und hinderte seine Fraudaran, ihm zu folgen. Die Nachbarn sagen, dass sie daraufhin nur noch geschrien hätte, sie würde keine Nacht mehr unter demselben Dach wie Shane verbringen.« Geraldine sah mich an. »In derselben Nacht brannte das Haus der O’Driscolls ab. Ich hab dir ja schon erzählt, dass Shanes Vater erst den Leichnam seiner Frau aus den Flammen schleppte und dann noch einmal hineinlief, um seinen Sohn zu retten.« Ein Frösteln lief durch ihren Körper. »Ich glaube, dass Shane das Feuer gelegt hat, um sie beide zu töten.«
»Was redest du da?«, sagte ich. »Das klingt ja krank.«
Eine Gruppe von Mädchen kam laut quasselnd mit ihren Milchkaffees auf die Veranda heraus.
»Ich trau ihm nicht«, flüsterte Geraldine. »Er wollte unbedingt reich sein. Jetzt ist er es: Er hat ein Vermögen geerbt. Er bekommt alles, was er will. Er versucht auch, an mich ranzukommen. Hat er dich geschickt? Benutzt er dich dafür?«
»Keiner benutzt mich«, sagte ich. »Ich bin einfach nur ich selbst.«
»Was für ein romantischer Junge.« Geraldine beugte sich plötzlich vor und küsste mich auf die Lippen. »Als kleines Dankeschön, mir hat nämlich bisher noch nie jemand ein Gedicht geschrieben.«
»Ein Gedicht?«
Geraldines Lächeln gefror ein wenig. »Na, das Gedicht, das du mir gestern Abend in den Briefkasten geworfen hast. In dem du schreibst, wie gern du mit mir durch Blackrock spazieren und mit mir alle Plätze besuchen würdest, die ich so gern mag …« Das Lächeln verschwand und sie musterte mich auf einmal misstrauisch. »Woher weißt du das eigentlich alles? Als wüsstest du über meine ganzen Geheimnisse Bescheid?«
»Ich hab dir kein Gedicht geschrieben.«
»Es war mit deinem Namen unterzeichnet, in gestochener Handschrift.« Geraldine wich erschrocken zurück. »Das ist sein Werk. Wie konnte ich nur darauf hereinfallen. Shane versucht, uns zu manipulieren.«
»Geraldine, hör zu …«
Aber Geraldine hörte mich nicht mehr. Sie stürmte durchs Café davon. Die Mädchen am Nebentisch unterbrachen ihr Gequassel und starrten mich an, als hätte ich etwas Fürchterliches gemacht. Ich rannte Geraldine nach, aber als ich auf die Main Street kam, war sie
Weitere Kostenlose Bücher