Wo die verlorenen Seelen wohnen
Ausgang. Draußen wartete Shane auf mich.
»Wenn er dabei ist, mag ich nicht mit dir reden.« Geraldine sprach jetzt ganz leise. »Sagen wir mal so, wenn wir heute Nachmittag im Shoppingcenter ineinanderstolpern, wäre das ja kein Date. Nur reiner Zufall. Versprich mir, dass du Shane nichts davon erzählst.«
Sie schob sich hastig an mir vorbei und durch die Schultür hinaus und tat so, als würde sie Shane nicht sehen. Er musterte mich eigenartig, als ich zu ihm trat.
»Was ist?«, fragte er. »Hast du später Lust auf eine Partie Snooker? Wie wär’s mit einem kleinen Trip nach Dún Laoghaire, um dort etwas abzuhängen?«
»Tut mir leid, Shane. Ich hab heute keine Zeit.«
»Alles klar, dann bis morgen.« Shane grinste, aber irgendetwas am Ausdruck in seinen Augen verstörte mich. Erst als ich schon fast zu Hause war, wurde mir klar, woher ich diesen Blick kannte: Es lag darin dieselbe Einsamkeit, die ich auch in den Augen des alten Mannes bemerkt hatte. Aber ich hatte keine Zeit, darüber länger nachzudenken, denn ich musste jetzt schnell was essen und dann in meinem Schrank nach dem richtigen Outfit für das zufällige Treffen im Shoppingcenter wühlen. Ich probierte mehrere T-Shirts an, bemühte mich, darin möglichst cool zu wirken, und scheiterte jedes Mal jämmerlich. Ich kämmte meine Haare nach vorn, danach fuhr ich mit den Fingern hindurch und strich sie nach hinten. Der erste Look sah bescheuert aus und der zweite noch bescheuerter. Und eigentlich war es mir auch ziemlich egal, wie ich aussah. Ich würde mich gleich mit Geraldine treffen, nur das zählte.
Als ich zum Blackrock-Shoppingcenter kam, war dort weit und breit nichts von Geraldine zu sehen. Ich setzte mich auf eine Bank im Eingangsbereich und war so damit beschäftigt, alle Leute anzustarren, die durch die großen Türen hereinkamen, dass ich Geraldine im ersten Stock direkt über mir erst bemerkte, als sie sich übers Geländer beugte und mir ein M&M an den Kopf warf. Als ich hochblickte, grinste sie und verschwand. Ich rannte die Rolltreppe in den ersten Stock hoch und kriegte grade noch mit, wie sie am anderen Ende die Treppe hinunterwollte. Sofort machte ich kehrt und rannte wieder nach unten. Als ich Geraldine erwischte, war ich ziemlich außer Atem. Sie lehnte an einem Pfeiler.
»Was ist gelb und kann nicht schwimmen?«, fragte sie.
»Keine Ahnung.«
»Ein Bagger, weil er nur einen Arm hat.«
»Das ist der schlechteste Witz, den ich jemals gehört habe.«
»Ich weiß jede Menge, die noch schlechter sind.«
»Ich bin so froh, dass ich dich endlich rumgekriegt habe.«
»Du könntest noch nicht mal einen Wackelpudding rumkriegen«, zog sie mich auf. »Aber das mag ich ja an dir.«
»Das war jetzt nicht nett.« Ich tat so, als würde ich schmollen.
»Lass uns draußen ein bisschen rumlaufen, dann bin ich gleich netter zu dir.« Sie lief zum Eingang. »Ich will damit ja nur sagen, dass du bei Mädchen nicht grade der Aufreißer bist.«
»Meinst du das als Kompliment?«
»Das ist eine Tatsache. Genauso wie du wirklich einfühlsam sein kannst.«
»Echt, findest du?«
»Komm schon, du weißt genau, was ich meine. Ich find’s einfach schade, dass du dich so an Shane ranhängst.«
»Können wir vielleicht mal aufhören, über Shane zu reden?«
»Gern.« Wir kamen raus auf die Main Street. »Dein Wunsch ist mir Befehl. Lass uns etwas spazieren gehen, und wenn du willst, zeige ich dir auch alle Plätze hier, die mir besonders viel bedeuten.«
Irgendetwas an dem, was sie gesagt hatte, verwirrte mich, aber ich wusste nicht recht was, und keinesfalls wollte ich mir die Freude, endlich einmal mit ihr allein zu sein, durch Rumgrübeln zerstören. Ich kannte sämtliche Straßen von Blackrock in- und auswendig, aber als ich jetzt mit Geraldine herumschlenderte, wirkte alles wie verwandelt. Wir redeten über die Leute in unserer Klasse und welche Bücher uns gefielen und welche Musik wir uns gern runterluden und wie es sich anfühlte, ein Einzelkind zu sein und nur mit einem Eltern- oder Großelternteil aufzuwachsen – ich bei meiner Mutter, sie bei ihrer Großmutter. Es war kein richtiges Date, weil wir ja nur zusammen die George’s Avenue entlanggingen und dann über die Carysfort wieder zurück, aber für mich fühlte es sich aufregender an als ein Abend in der Tonic Bar oder im The Wicked Wolf. Schließlich schlug ich ihr vor, doch gemeinsam einen Kaffee bei Starbucks in dem alten Postamt an der Main Street zu trinken. An der
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