Wo die verlorenen Seelen wohnen
Theke nahm ich bereits die zwei Cappuccinos entgegen, bevor sie noch dagegen protestieren konnte, dass ich für uns beide bezahlt hatte, und ging dann durch die Türauf der Rückseite des Raums auf die Veranda hinaus, von der aus man einen guten Blick auf den Bahnhof und die halb verfallenen Anlagen der alten Schwimmbäder von Blackrock hatte. Als ich mich umdrehte, stand Geraldine zögernd in der Tür.
»Ist es hier draußen okay?«, fragte ich. »Ich dachte, dass du vielleicht lieber im Freien sitzt.«
»Tu ich auch«, sagte sie. »Es ist nur …« Sie setzte sich an einen Tisch und schaute aufs Meer hinaus. »Ach, eigentlich gar nichts. Zeit, dass ich erwachsen werde.«
»Verstehe ich jetzt nicht.«
»Ich hab den Blick raus auf die Bucht möglichst immer vermieden, weil meine Mutter da beim Schwimmen ums Leben gekommen ist.«
»Oh, tut mir leid. Willst du, dass wir wieder reingehen?«
»Nein, ich muss aufhören, so abergläubisch zu sein. Als Kind hab ich alle meine wertvollen Besitztümer in einer Schachtel aufgehoben, wo ich wusste, dass sie sicher waren, und in den letzten zwei Jahren hab ich mich selbst auch irgendwie in eine solche Schachtel eingesperrt, um nicht wieder verletzt zu werden.«
»Ich würde dich nie verletzen, Geraldine.«
Sie trank von ihrem Cappuccino. »Wie kommt es eigentlich, dass du mich so gut verstehst?«
»Glaubst du das?«
Sie schaute an mir vorbei aufs Meer hinaus. Ihre Haare glänzten in der Sonne. »Aber es ist so.«
»Ich … ich finde dich einfach cool und … und wahnsinnig hübsch.«
»Und ich weiß, dass du ein bisschen naiv bist.«
»Oh, vielen Dank.« Ich fühlte mich gekränkt.
»Nicht auf eine ungute Weise. Du bist nett und eben ein bisschen naiv.«
»Okay, können wir dann vielleicht auch mal ein richtiges Date haben?«
»Ich hab dir doch gesagt, ich bin noch nicht so weit.«
Geraldine sah sich um, als fürchtete sie, beobachtet zu werden. »Aber ich kann jemand in meiner Nähe brauchen. Weißt du Joey, in den letzten zwei Jahren hab ich mich oft gefürchtet, ohne recht zu wissen, warum. Aber als dann Shane in unsere Klasse kam, wusste ich es: Ich hatte mich davor gefürchtet, dass er zurückkommen würde, um mich zu holen.«
»Wie meinst du das: um dich zu holen?«
»Es ist so etwas Unnatürliches an ihm. Ich habe das Gefühl, ständig beobachtet zu werden. Sogar nachts bilde ich mir ein, dass Shane mich verfolgt.«
Joey zögerte. »Vielleicht stimmt das sogar. Aber es ist nicht Shane.«
»Wer denn dann?«
Wieder zögerte Joey. »Ein alter Mann. Er heißt Thomas.«
In Geraldines Stimme lag Misstrauen. »Was weißt du von Thomas? Er sollte schon längst tot sein. Die Ärzte haben ihm damals nur noch ein paar Monate gegeben.« Gedankenverloren schwieg sie eine Weile. Dann streckte sie ihre Hand über den Tisch aus und griff nach meiner. »Ich habe Angst davor, mich in dich zu verlieben, Joey. Ich hab mich schon mal in einen Jungen verliebt und dann hat er sich so seltsam verändert. Versprich mir, dass du dich nicht auch so seltsam verändern wirst.«
»Wie hat sich Shane denn verändert?«
»Ich wünschte, das wüsste ich.« Geraldine zog ihre Hand wieder zurück, stand auf und trat ans Geländer. »Ich wünschte, ich hätte eine Erklärung dafür.«
Z WEIUNDDREIßIGSTES K APITEL
G ERALDINE
A UGUST 2007
U m zwei Uhr morgens hielt ein Polizeiauto vor dem finsteren Haus am Ende der Castledawson Avenue. Auf dem Rücksitz saß Geraldine zwischen ihrer Oma und Shanes Vater, der voller Sorge aus dem Fenster sah. Als Geraldine von dem Brunnen im Keller erzählt hatte, war er immer unruhiger geworden und hatte Geraldine so mit Fragen bestürmt, dass ihre Großmutter eingeschritten war. Er solle ihrer Enkelin nicht noch mehr Angst einjagen, meinte sie.
Geraldine war sich nicht sicher, ob die Polizisten ihr wirklich abgenommen hatten, dass in dem Haus ein alter Mann lebte. Zuerst hatten sie gesagt, dass es noch viel zu früh sei, um Shane als vermisst zu melden – wahrscheinlich war er einfach nur spät mit einem Freund unterwegs. Aber Geraldine wusste, dass Shane außer ihr keine Freunde in Blackrock hatte. Sie wusste auch, dass es zwischen ihnen beiden mehr als nur Freundschaft war. Erst jetzt, wo Shane verschwunden war, gestand sie sich ein, dass sie ihn liebte. Deshalb hatte sie auch seine Schimpftirade vor der Bücherei so schwer ertragen. Es war ihr vorgekommen, als hätte eine fremde Macht von ihm Besitz ergriffen. Sie hatte Angst um
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