Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Wo die verlorenen Seelen wohnen

Wo die verlorenen Seelen wohnen

Titel: Wo die verlorenen Seelen wohnen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Dermot Bolger
Vom Netzwerk:
hat mich geschickt«, sagte ich. »Ich bin gekommen, um Ihnen zu sagen, dass Sie aufhören sollen, hier Verwirrung und Unruhe zu stiften.«
    »Verwirrung und Unruhe?« Der alte Mann lachte verbittert auf. »Bei mir hat der Ärger damit angefangen, dass er in meinem Leben aufgekreuzt ist. Hast du ihm gesagt, dass ich es zurückwill?«
    »Was wollen Sie von ihm zurück?«
    Der alte Mann kam näher. Bei jedem Schritt, den er auf mich zuging, wich ich ein bisschen mehr zurück.
    »Bist du wirklich so begriffsstutzig, dass du es nicht errätst? Wie dumm und ahnungslos bist du eigentlich, Joey?«
    Ich konnte nicht weiter zurückweichen und stand da mit dem Rücken gegen eine mit Schimmel überzogene Wand gepresst. Neben mir war das Fenster mit einer Decke verhängt.
    »Ich will wissen, ob Sie Geraldine ein Gedicht geschickt haben. Ein Gedicht, unter dem mein Name steht, obwohl ich es nicht geschrieben habe. Lassen Sie uns in Ruhe! Halten Sie sich aus meinem Leben raus und aus dem von Geraldine auch!«
    »Das ist nicht alles, Joey. Du willst mehr. Du willst wissen, was hinter alldem steckt. Du willst das Geheimnis wissen. Neugierde ist eine gefährliche Krankheit. Hüte dich, sonst wird dir dein Wunsch womöglich erfüllt. Hat er dich geschickt?«
    »Niemand hat mich geschickt.«
    »Ganz sicher? Er hat so seine Wege, um die Leute tun zulassen, was er will. Er muss in diesem Haus noch etwas erledigen, aber er traut sich nicht, selbst einen Fuß hier hereinzusetzen. Sag ihm, dass das Testament mit dem letzten Willen von Thomas McCormack hier versteckt ist. Sag ihm, dass dort alles dem Jungen vermacht wird, der einem sterbenden alten Mann beigestanden hat. Wenn er das Haus möchte, wenn er es erben will, so wie er bereits andere Vermögen geerbt hat, muss er selbst herkommen und nach dem Testament suchen. Der hinfällige, klapperige Körper, in dem ich mich zwangsweise aufhalte, wird sehr bald sein Leben ausgehaucht haben. Wenn er nicht kommt, werden die Testamentsvollstrecker alles so ausführen, wie es ursprünglich festgelegt war: Sie werden das Haus abreißen lassen und das Grundstück dann verkaufen. Er giert nach dem Haus hier, genauso wie er nach Castledawson House gegiert hat, nachdem er es durch sein Glücksspiel verloren hatte. Sag ihm, er kann sein altes Haus zurückhaben, wenn er hierherkommt. Er muss mich nur vorher töten.«
    »Wie meinen Sie das, ›er kann sein altes Haus zurückhaben‹? Es ist doch Ihr Haus. Warum sollten Sie es ihm überlassen?«
    »Ich besitze nichts, Joey, ich habe nicht einmal mehr eine Familie. Meine Eltern sind bei einem Feuer ums Leben gekommen. Meine Tante ist in England mit ihrem Auto gegen einen Baum gefahren, als sie herausgefunden hat, dass sie mit einem Wechselbalg zusammenlebte. Ich hatte nur einen wirklichen Freund – das Mädchen, das ich immer noch liebe.«
    »Sie sind geisteskrank«, sagte ich. »Und Ihre zwei Brüder hier hatten auch einen an der Waffel.«
    Der alte Mann presste sein Gesicht gegen meines. »Ich bin Einzelkind und nur vier Monate älter als du.«
    Ich schob ihn sachte weg. Er wirkte so zerbrechlich, dass ich bei ihm keinen Sturz verursachen wollte.
    »Solche Erkrankungen muss man mit Medikamenten behandeln.«
    Thomas hob seinen Stock und zerschmetterte die Tasse auf dem Tisch. »Ich brauche keine Medikamente! Ich will, dass du mir glaubst. Dieser Untote hat mir mein Leben gestohlen! Und das hat er vor mir schon bei anderen getan. Viele Jahrhunderte lang hat man hier alte Männer mit durchgeschnittener Kehle aufgefunden, nachdem ihre Körper verbraucht waren, die er ihnen in ihrer Jugend gestohlen hatte.« Er schaute mich an. »Willst du ewig leben, Joey?«
    »Will das nicht jeder?«
    »Aber nicht jeder erhält die Chance. Doch stell dir mal vor, du wärst der Auserwählte. Du müsstest nie sterben. Deine Seele und deine Gedanken könnten für ewig weiterleben – nicht in deinem eigenen Körper, weil alle Körper irgendwann erschöpft und ausgelaugt sind, aber zusammen mit einer anderen Seele, in einem neuen Körper. Was würdest du tun, wenn dir die Chance auf Unsterblichkeit angeboten würde?«
    Ich machte ein paar vorsichtige Schritte in Richtung Tür. Der alte Mann setzte sich an den Tisch, er wirkte traurig und müde.
    »Ich kann ja verstehen, dass du mir nicht glaubst. Sogar meine eigene Mutter hat mich zuerst nicht erkannt. Aber als es dann so war, hat er sie in den Flammen sterben lassen.« Er starrte auf seine knotigen Finger. »Du und ich

Weitere Kostenlose Bücher