Wo die Wahrheit ruht
Hand in die Hüfte gestemmt, nestelte sie mit der anderen an einer ihrer langen blonden Locken. Sie war Anfang dreißig, ungefähr ein Meter sechzig groß, hatte mandelförmige blaue Augen und einen kleinen Schmollmund, den sie mit einem knallroten Lippenstift hervorhob. Sie trug eine selleriegrüne Jeansjacke mit besticktem Kragen und eine enge Jeanshose, die unten in Stiefeletten steckte. Ihre langen Ohrringe blitzten und blinkten in der Oktobersonne.
Sie musterte Grace neugierig von Kopf bis Fuß. “Das muss man Steven lassen, sein Frauengeschmack war eins a.” Sie deutete zur Tür. “Ich habe angeklopft. Scheint, Sie haben mich nicht gehört.”
“Scheint so”, erwiderte Grace in dem gleichen saloppen Ton.
Die Besucherin trat zur Seite, um Grace ins Vorderzimmer durchzulassen. “Ich bin übrigens Denise Baxter.”
Baxter.
Dann konnte sie nur die Ehefrau des Mordverdächtigten Fred Baxter sein. “Ich dachte, bevor Sie die schmutzigen Geschichten, die über mich in der Stadt kursieren, von anderen hören, komme ich lieber persönlich vorbei und erzähle sie Ihnen. Dann erfahren Sie wenigstens alles aus erster Hand.”
Grace säuberte sich die Hände mit einem Papiertuch. “Sie brauchen mir gar nichts zu erklären, Mrs. Baxter …”
“Ach, sparen wir uns doch das Siezen. Ich bin Denise, so nennen mich hier alle.”
“Gerne, Denise. Wie gesagt, du schuldest mir keinerlei Erklärungen. Und falls es dich beruhigt, ich habe noch nie viel auf Klatsch und Tratsch gegeben.”
Die junge Frau musterte sie einen Augenblick und nickte kurz. “Du bist genauso geradlinig, wie Steven dich beschrieben hat.” Ihr Blick glitt zu einer bestimmten Stelle auf dem Boden, zwischen dem Schreibtisch und der Eingangstür. “Es ist ein komisches Gefühl, hier zu sein. Es ist das erste Mal seit …” Sie hielt inne, als brächte sie die Worte nicht über die Lippen.
Grace folgte ihrem Blick. “Lag Stevens Leiche dort drüben?”
Denise nickte. “Niemand hatte Zutritt, solange das gelbe Absperrband hing. Einige Tage später habe ich dann den mit Kreide gezeichneten Umriss seines Körpers gesehen. Die Ermittlungen waren abgeschlossen, und Mrs. Hatfield hat die Galerie von oben bis unten reinigen und desinfizieren lassen.” Sie blickte Grace in die Augen. “Sie hat mich auf der Stelle gehasst.”
Grace lächelte. “Nimm's nicht persönlich. Vor Sarahs Augen findet kaum jemand Gnade. Das kannst du mir glauben.”
“Steven hat ihr die Schuld daran gegeben, dass ihr beide euch getrennt habt.”
Typisch Steven, die Schuld auf jemand anderen zu schieben. “Tatsächlich?”
“Oh, nicht, dass du mich falsch verstehst. Er hat eingestanden, dass er Mist gebaut hatte. Aber er hat geglaubt, wenn seine Mutter dir gegenüber nicht so hart gewesen wäre, hättest du ihm verziehen und wärst bei ihm geblieben.”
“Da hat er sich etwas vorgemacht. Ich habe mit Steven Schluss gemacht, weil er mich betrogen hat. Vielleicht ist das altmodisch, aber Vertrauen und Treue stehen nun einmal weit oben auf meiner Prioritätenliste, insbesondere wenn man sich entschieden hat, zu heiraten. Was Sarah angeht, hatte sie nichts mit meinem Entschluss zu tun. Ich hatte mich bereits mit ihrer ablehnenden Haltung mir gegenüber arrangiert und sie einfach ignoriert.”
Denise blickte sie mit unverhüllter Bewunderung an. “Da hast du mehr Mumm als ich. Allein beim Anblick dieser Frau schlottern mir die Knie.”
Sie hielt kurz inne und ergänzte dann. “Jetzt ist mir klar, warum Steven so viel von dir gehalten hat. Du lässt dich von niemandem zum Opfer machen.”
Grace lächelte. “Hat er dir das gesagt?”
“Nein, das habe ich schon den ganzen Morgen gehört. Die ganze Stadt redet davon, wie du dich letzte Nacht gegen den Einbrecher zur Wehr gesetzt hast. Wo hast du gelernt, so zuzutreten?”
“Im Kickboxing-Kurs. Wenn man in einer Großstadt wohnt und bis spät nachts arbeitet, muss man wissen, wie man sich im Notfall verteidigt.”
“Musstest du dich schon oft verteidigen?”
“Ehrlich gesagt, gestern war mein erstes und hoffentlich auch letztes Mal.”
“Geht es dir wieder gut? Lorraine aus dem Café sagt, dass du über Nacht im Krankenhaus bleiben musstest.”
In einer Kleinstadt verbreiteten sich Neuigkeiten nun mal wie ein Lauffeuer. “Von ein paar Beulen und blauen Flecken abgesehen, habe ich nichts abbekommen.”
Denise ließ sich auf dem Hocker vor dem Schreibtisch nieder und machte es sich gemütlich. “Du
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