Wo die Wahrheit ruht
dann?”
“Die Auswahl ist groß.”
Was für ein seltsamer Kommentar. Steven war niemand gewesen, der sich Feinde machte. “Was soll das heißen?”
“Steven hatte eine ganze Reihe von Feinden in der Stadt, mit Buzz Brown einmal angefangen.”
“Wer ist Buzz Brown?”
“Ihm gehört eine große Farm an der Route 232. Vor sechs Monaten ist seine Frau schwer erkrankt. Buzz hat versucht, sein Land an eine Baufirma zu verkaufen, um mit Alma nach Arizona zu ziehen. Steven jedoch, der Mitglied im Planungsausschuss der Gemeinde war, hat schwere Einwände gegen den Plan der Baufirma erhoben, dreihundert Eigenheime auf dem Gelände zu errichten. Als die Bürger der Gemeinde seine Argumente hörten, dass die Zersiedelung den Charakter der Gegend zerstören, das Verkehrsaufkommen erhöhen und zu einer höheren Steuerbelastung führen würde, begannen sie, zu den Planungssitzungen zu erscheinen und ihre Bedenken vorzutragen. Der Antrag wurde daher abgelehnt, und nur wenige Wochen später starb Alma. Buzz machte Steven persönlich für den Tod seiner Frau verantwortlich. Danach haben sie nie wieder ein Wort miteinander gewechselt.”
“Sechs Monate sind eine lange Zeit, meinst du nicht auch?”, fragte Grace. “Angenommen, Buzz war wütend genug, um einen Mord zu begehen, warum hat er es dann nicht gleich gemacht?”
“Weil der Verdacht dann sofort auf ihn gefallen wäre.”
Offensichtlich hatte Denise schon viel über den Fall nachgegrübelt. “Du hast gesagt, Steven hätte eine ganze Reihe von Feinden in der Stadt gehabt. Wer sind die anderen?”
“Der Dekan des örtlichen College, John Amos.”
“Das College, in dem Steven zweimal die Woche als Kunstdozent gearbeitet hat?”
Denise nickte. “Wie du ja aus eigener Erfahrung weißt, war Steven ein unglaublicher Frauenheld. Eine der Studentinnen hat ihn wegen sexueller Belästigung angezeigt. Der Dekan wollte Steven auf der Stelle feuern, doch die Verwaltung hat zu seinen Gunsten interveniert, und deshalb durfte er bleiben. Der Dekan war stinkwütend.”
“Warum ließ man ihn bleiben?”
“Was glaubst du wohl? Stevens Mutter hat sich eingeschaltet, ließ dem College eine großzügige Spende zukommen und damit war die Sache gegessen. John Amos kann froh sein, dass nicht
er
gefeuert worden ist.”
Die Sache musste eine erniedrigende Erfahrung für den Dekan gewesen sein, aber das ergab noch lange kein Motiv für einen Mord. “Wer kommt noch in Frage?”
“Ich kann niemand
Bestimmtes
nennen”, sagte Denise. “Aber so, wie Steven mit den Frauen der Stadt herumgeflirtet hat …” Sie rollte wieder die Augen. “Sie alle genossen die Aufmerksamkeit, doch die Ehemänner und Freunde waren sicher wenig begeistert.”
“Ist er mit einer dieser Frauen ins Bett gegangen?”
Zum ersten Mal wurde Denise' Blick unstet. “Nein.” Sie wich Grace' Blick aus. “Ist er nicht.”
Grace musterte sie aufmerksam. Die Frage hatte Denise nervös gemacht.
Als ob sie Grace' Misstrauen gespürt hätte, wandte Denise ihr wieder das Gesicht zu. “Falls du glaubst, dass
ich
Steven umgebracht habe, vergiss es. Selbst wenn ich mein eigenes Leben verteidigen müsste, würde ich danebenschießen. Da brauchst du bloß Carmine zu fragen, der den Schießstand betreibt. Er wird es bestätigen. Fred hat mich ein paarmal zum Übungsschießen mitgenommen, aber schließlich aufgegeben. Und wie schon gesagt, ich war in meinem Laden. Eine Menge Leute haben mich dort gesehen.”
Wie bei der Kunst, so war auch bei den Menschen der Schein oftmals trügerisch. Verborgene Schichten mussten freigelegt und das Gegenüber aus verschiedenen Winkeln betrachtet werden. Denise' scheinbar so offenherzige Art hatte sich gewandelt. Sie schien etwas zu verheimlichen, aus Sorge um sich selbst oder um ihren Ehemann zu schützen.
“Ich bin sicher, ein guter Anwalt wird Licht ins Dunkel bringen”, sagte Grace.
Ein weiteres
Pah
! “Miles ist ein Schlappschwanz. Ich wollte ja einen gewieften Anwalt mit Biss einschalten, der auf Strafrecht spezialisiert ist, aber Fred will einfach nicht mit mir reden. Seit seiner Verhaftung habe ich ihn nicht mehr gesehen.” Sie klang resigniert und niedergeschlagen.
Grace wusste nicht, was sie sagen sollte. “Das tut mit leid.”
“Ist okay. Ich komme damit schon klar. Alles, was ich will, ist, dass Fred freikommt. Und jetzt ist endlich Hoffnung in Sicht – zum ersten Mal nach mehr als einer Woche.” Ihre Miene hellte sich auf. “Matt ist auf dem Weg
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