Wo du nicht bist, kann ich nicht sein
verdrängt hatte. Alle sagten immer, was für eine schlechte Idee es wäre, sich mit einem Fremden aus dem Internet zu treffen. Was, wenn sie recht hatten und ich mich in Jonathan getäuscht hatte? Eine ganze Weile zögerte ich, dann machte ich kehrt und ging zu Abbys Haus.
Abbys Mum wich verblüfft zurück, als sie die Tür aufmachte, wahrscheinlich fragte sie sich, wo ich plötzlich die Brüste herhatte. An ihrem Verhalten konnte ich deutlich merken, dass Abby letzte Nacht davongekommen war.
Abby machte groÃe Augen, als ihre Mutter mich in ihr Zimmer schob.
»Ros! Ich dachte ⦠Wow! Wer hat dich denn so gestylt? Du siehst älter aus â echt cool. Find ich toll!«
Aber ich war jetzt nicht in der Stimmung für Komplimente, sondern kam gleich auf gestern Abend zu sprechen â und es war genau so, wie Jonathan gesagt hatte. Abby hatte nicht die Erste sein wollen, die zum Aufbruch drängte.
»Ich wollte vor Claudia und den anderen nicht dumm dastehen«, murmelte sie.
»Na toll!«, blaffte ich. »Du hast die ganze Zeit rumgejammert, wie wahnsinnig gern du bleiben würdest, aber du müsstest ja die spieÃige Ros begleiten â und ich war die Spielverderberin. Das ist gemein, Abby.«
»Das sind nicht deine Freunde. Du hast gesagt, dir ist egal, was sie denken.«
Ist es auch und irgendwie auch wieder nicht. Im Moment ergibt rein gar nichts einen Sinn, dachte ich. »Egal jetzt. Du musst mit mir kommen, Abby. Ich bin am Bahnhof Liverpool Street mit Jonathan verabredet, und ich könnte wirklich Begleitung brauchen, nur für alle Fälle â na ja, du weiÃt schon, falls er nicht der ist, für den er sich ausgibt. Und es gibt noch ein Problem.« Ich atmete tief durch. »Er denkt, ich bin Olivia.« Beschämt erklärte ich ihr die Lage.
Abby sah mich mitfühlend an. »Oh Ros! Warum entschuldigst du dich dauernd für dich? Wenn Jonathan so toll ist, wie du sagst, wird er dich so mögen, wie du bist.«
»Ich weià nicht â¦Â«
»Komischer Freund«, murmelte Abby und nahm ihre Tasche. »Jetzt fang nicht an zu weinen, Ros, sonst verschmiert deine ganze Schminke. Und du siehst wie gesagt verdammt gut aus. Sind das Papiertaschentücher in deinem BH ?«
»Früher hab ich nie so gelogen«, schniefte ich. »Wenn die Liebe dir zeigt, wer du wirklich bist, dann will ich nicht ich sein.«
»Sag so was nicht. An dir ist jede Menge Gutes.«
Mit dem Ãrmel wischte ich mir über die Nase. »Was denn zum Beispiel?«
Abby drückte mich. »Zum Beispiel bist du meine beste Freundin.«
In der U-Bahn wünschte ich mir, die Fahrt würde ewig dauern. Was sollte ich zu Jonathan sagen? Sobald er mich sah, würde er wissen, dass ich ihn angelogen hatte, und »Ich wollte nur, dass du denkst, ich wäre hübsch« klang nach einer ziemlich verzweifelten Entschuldigung.
»Am besten sagst du ihm einfach die Wahrheit«, wiederholte Abby wieder und wieder. »Schön ist es nicht, aber ich wüsste nicht, wie du sonst aus der Sache rauskommen solltest.«
Bevor wir aufgebrochen waren, hatten wir noch eine SMS an eine Schulfreundin geschickt. Es war vielleicht ganz gut, wenn noch jemand wusste, was wir machten, nur für alle Fälle.
Ich wäre am liebsten abgehauen, als wir aus der Bahn ausstiegen. Mit jedem Schritt wurde mir schlechter. Kein bisschen »hochnäsig« mehr, dachte ich und holte tief Luft, bevor uns die Rolltreppe ins Erdgeschoss beförderte.
Ich führte Abby auf einem Umweg zum Kaffeestand, versteckte mich hinter irgendwelchen Leuten und hoffte, dass Jonathans Zug Verspätung hatte.
Das Glück hatte ich nicht.
»Boah«, machte Abby, als sie ihn entdeckte. »Er ist also doch kein perverser alter Knacker. Der ist ja total klasse.«
Kein Zweifel möglich, sogar ein Gitarrenkasten baumelte ihm von der Schulter. Mit den Händen in den Taschen, lehnte er an einem Reklameschild, vermutlich wartete er schon eine ganze Weile.
Für einen Moment vergaà ich meine Nervosität. Er hatte die Wahrheit gesagt! Ich war so erleichtert, dass ich es am liebsten laut herausgesungen hätte. Alles, was wir miteinander geteilt hatten, war echt gewesen â Jonathan war echt, und er sah sogar noch besser aus als auf den Fotos.
»Was willst du jetzt machen?« Abbys Stimme holte mich in die Realität zurück. Ich tauchte hinter einer
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