Wo gute Ideen herkommen.: Eine kurze Geschichte der Innovation. (German Edition)
die er im Lauf seiner vielen Reisen besuchte. Auf Märkten in Quito, Nairobi und Delhi kaufte er zum Beispiel Sandalen aus Autoreifen. Als modisches Accessoire mochten sie nicht viel hermachen, doch für Gould waren sie ein Symbol für den menschlichen Erfindungsgeist und nicht zuletzt eine Analogie zu den Innovationsmustern in der biologischen Welt, denn auch in der Natur entstehen Innovationen aus Ersatzteilen. Die Evolution bedient sich der zur Verfügung stehenden Ressourcen und verbindet sie zu etwas Neuem. Der Evolutionstheoretiker François Jacob beschrieb diese Erkenntnisin seinem Bild der Evolution als Tüftler und Baster, nicht als Ingenieur. Auch unser Körper ist ein solches Bastelprodukt, ist etwas Althergebrachtes, das zu etwas radikal Neuem zusammengefügt wurde. »Das Reifen-zu-Sandalen-Prinzip greift auf allen Ebenen und zu jeder Zeit«, schrieb Gould. »Unvorhersehbare Impulse, die jeden Moment auftreten können, machen die Natur genauso erfinderisch wie einen schlauen Menschen, der sich überlegt, was er mit den Materialien anstellen könnte, die er auf einem Schrottplatz in Nairobi findet.«
Der gleiche Prozess ist auch für die Entstehung des Lebens selbst verantwortlich. Die Wissenschaft ist sich nach wie vor uneins darüber, wie und wo das erste Leben entstanden ist. Manche glauben, es war in den rauchenden Schloten unterseeischer Vulkane, andere haben die offenen Ozeane im Verdacht, und wieder andere halten es mit Darwin, der die Auffassung vertrat, das erste Leben sei in Gezeitentümpeln entstanden. Nicht wenige Wissenschaftler glauben, das Leben könnte auch aus dem All gekommen sein, eingebettet in das Innere eines Meteors. Dank der präbiotischen Chemie wissen wir einiges darüber, wie die Zusammensetzung der Erdatmosphäre vor der Entstehung des ersten Lebens ausgesehen hat. Es gab nur eine Handvoll Molekülverbindungen: Ammoniak, Methan, Wasser, Kohlendioxid, ein paar vereinzelte Aminosäuren und andere einfache organische Verbindungen. All diese Moleküle konnten bestimmte Reaktionen miteinander eingehen, so konnten sich aus Methan und Sauerstoff zum Beispiel Formaldehyd und Wasser bilden.
Stellen wir uns nun die Moleküle in der Ursuppe vor und die verschiedenen Neukombinationen, die sie bilden können, wenn sie zufällig (oder angestoßen von einem bisschen Extraenergie durch einen Blitzeinschlag zur rechten Zeit) aufeinanderprallen. Selbst wenn wir Gott spielen könnten und alle nur erdenklichen Kombinationendaraus bilden würden, hätten wir am Ende zwar die Grundbausteine des Lebens wie Proteine für die Zellwände und Zuckermoleküle für die Nukleinsäuren unserer DNA, aber wir hätten keinen fertigen Moskito, keine Sonnenblume und schon gar kein menschliches Gehirn. Formaldehyd ist eine Kombination erster Ordnung, es lässt sich direkt aus den Molekülen der Ursuppe herstellen. Das Gleiche gilt für die Moleküle einer Sonnenblume – es gab sie alle schon, bevor das erste Leben entstanden war, und dennoch hätte aus der Ursuppe keine Sonnenblume wachsen können, weil dafür erst eine ganze Reihe weiterer, aufeinander aufbauender Innovationen nötig war, die sich erst im Lauf der nächsten Millionen Jahre entwickeln sollten: Chloroplasten, die die Energie des Sonnenlichts aufnehmen, Leitbündel, die die Nährstoffe in der Pflanze transportieren, DNA-Moleküle, die den »Bauplan« an die nächste Generation Sonnenblumen weitergeben.
Der Wissenschaftler Stuart Kauffman hat einen treffenden Namen für diese Aufeinanderfolge von Kombinationen gefunden. Er nennt sie das »Nächstmögliche«. Dieser Ausdruck spiegelt sowohl die Grenzen als auch das schöpferische Potenzial von Veränderung und Innovation wider. Im Fall der präbiotischen Chemie sind unter dem Nächstmöglichen alle chemischen Reaktionen zu verstehen, die in der Ursuppe möglich waren. Sonnenblumen, Moskitos und Gehirne lagen noch außerhalb des Nächstmöglichen. Das Nächstmögliche ist eine Zukunft, die noch im Schatten liegt, die sozusagen am Rand des bereits Existierenden schwebt als Wegweiser zu den verschiedenen Möglichkeiten, wie die Gegenwart sich selbst neu erfinden könnte. Dennoch sind diese Möglichkeiten begrenzt, das Nächstmögliche ist keine unendliche Spielwiese. Die Anzahl an Kombinationen erster Ordnung mag groß sein, aber sie ist endlich, und die meisten Kombinationen, die unsere heutige Biosphäre bevölkern, sind darin nicht enthalten. Das Nächstmögliche sagtuns, dass die Welt sich zwar
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