Wo gute Ideen herkommen.: Eine kurze Geschichte der Innovation. (German Edition)
Auffassungen darüber, welche Probleme überhaupt die Suche nach einer Lösung lohnen. Um sich auf die Suche nach Sauerstoff machen zu können, brauchten Priestley und Scheele den konzeptionellen Rahmen, dass Luft etwas war, das aus verschiedenen Gasen bestand und einer Untersuchung lohnte; beide Auffassungen begannen sich erst in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts durchzusetzen. Andere Voraussetzungen sind eher technischer Natur. So brauchten Priestley und Scheele entsprechend feine Messgeräte, um die winzigkleinenGewichtsunterschiede als Folge der Oxidation überhaupt messen zu können, und die waren 1774 erst seit wenigen Jahrzehnten verfügbar. Als beide Rahmenbedingungen erfüllt waren, trat die Entdeckung des Sauerstoffs in den Bereich des Nächstmöglichen. Sauerstoff zu isolieren, lag im wahrsten Sinne des Wortes in der Luft, aber nur weil vorangegangene Entwicklungen das Experiment überhaupt erst hatten vorstellbar werden lassen.
Das Nächstmögliche wird genauso von Öffnungen definiert wie von Grenzen. Zu jedem Zeitpunkt in der Geschichte einer sich ausweitenden Biosphäre gibt es Türen, die sich noch nicht öffnen lassen. Wir stellen uns bahnbrechende Ideen gerne als eine Art Zeitsprung vor, als wäre ein brillanter Geist, der seiner Zeit um fünfzig Jahre voraus war, auf etwas gekommen, das seinen in der Gegenwart gefangenen Zeitgenossen nie eingefallen wäre. In Wahrheit jedoch gehen technologischer und wissenschaftlicher Fortschritt so gut wie nie über das Nächstmögliche hinaus, und kultureller Fortschritt funktioniert fast ausnahmslos nach dem Muster: von einer Tür zur nächsten. Der Palast wird Schritt für Schritt erkundet, ein Zimmer nach dem anderen. Natürlich ist der menschliche Geist nicht auf Gedeih und Verderb an die Grenzen und Gesetze der Materie gebunden, und ab und zu kommt es vor, dass jemand mit einer Idee mehrere Zimmer des Nächstmöglichen überspringt. Aber diesen Ideen ist meistens nur ein kurzes Leben beschert. Sie enden als Fehlschläge, und das genau deshalb, weil sie mehrere Schritte übersprungen haben. Es gibt einen Ausdruck für diese Ideen: Wir nennen sie »ihrer Zeit zu weit voraus«.
Denken wir nur an die legendäre Rechenmaschine, die der britische Erfinder Charles Babbage im 19. Jahrhundert erdachte. Babbage gilt gemeinhin als der Urvater des Computers, obwohl es eigentlich Ururgroßvater heißen müsste, denn es sollte nochmehrere Generationen dauern, bis die Welt bereit war für seine Idee. Eigentlich sind es sogar zwei Maschinen, die Babbage einen Ehrenplatz in der Ruhmeshalle der Erfinder eingebracht haben, doch keine davon konnte er zu Lebzeiten bauen. Die Erste war seine Differenzmaschine, ein unglaublich komplizierter, fünfzehn Tonnen schwerer Apparat mit über 25.000 mechanischen Teilen, dazu gedacht, trigonometrische Tabellen für die Navigation in der Schifffahrt zu berechnen. Hätte Babbage sein Projekt zu Ende führen können, wäre seine Differenzmaschine die fortschrittlichste mechanische Rechenmaschine auf der ganzen Welt gewesen. Als das Londoner Science Museum zu Ehren Babbages ein solches Gerät nach seinen Plänen baute, waren die Ergebnisse bis zur einunddreißigsten Stelle hinterm Komma korrekt, und die Berechnung dauerte nur wenige Sekunden. Sowohl Geschwindigkeit als auch Genauigkeit der Differenzmaschine hätten alle anderen Geräte zu Babbages Zeiten bei Weitem in den Schatten gestellt.
Trotz aller Komplexität lag die Differenzmaschine im Bereich des Nächstmöglichen der viktorianischen Zeit. In der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts wurden immer bessere mechanische Rechenmaschinen gebaut, und viele davon basierten auf Babbages Entwurf. Der schwedische Verleger Per Georg Scheutz schließlich baute eine funktionierende Differenzmaschine, die 1855 auf der Pariser Weltausstellung erstmals der Öffentlichkeit vorgeführt wurde. Zwei Jahrzehnte später war die Technik so weit, Scheutz‘ in etwa pianogroßes Gerät auf die Maße einer Nähmaschine zu reduzieren. 1884 gründete der amerikanische Erfinder William Seward Burroughs die
American Arithmometer Company
, die mechanische Rechenapparate in Massenproduktion herstellte. Das Vermögen, das er damit machte, sollte ein knappes Jahrhundert später die Anfänge der Schriftstellerkarriere seines gleichnamigen Enkels finanzieren helfen (und auch seine Drogensucht). BabbagesDifferenzmaschine war zweifellos eine geniale Erfindung, aber sie sprengte nicht den Bereich des
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