Wo gute Ideen herkommen.: Eine kurze Geschichte der Innovation. (German Edition)
Versuchen beschreiben, das Nächstmögliche zu erkunden, und mit jeder Entdeckung öffneten sich neue Möglichkeiten, die es zu erforschen galt. Allerdings gibt es Systeme, denen es besser als anderen gelingt, neue Möglichkeitsräume zu erkunden. Unser Ausgangspunkt war Darwins Paradoxon, das sich um die Frage dreht, warum das Ökosystem eines Korallenriffs so außerordentlich geschickt darin ist, das Nächstmögliche zu erschließen, und wie sich dort auf so engem Raum so viele Lebensformen tummeln können, dass der Ozean darum herum vergleichsweise unbewohnt erscheint. Ähnlich verhält es sich mit Großstädten, die das wirtschaftlich Nächstmögliche weit eher zulassen als Kleinstädte und Dörfer. In der Großstadt können Unternehmer Geschäftsmodelle realisieren, die in weniger dicht bevölkerten Räumen keine Chance hätten.
Das World Wide Web hat sich das Nächstmögliche weit schneller erschlossen als jedes andere Medium in der Geschichte der Menschheit. Anfang 1994 bestand das World Wide Web nur aus Text, aus mit Wörtern gefüllten Seiten, die über Hyperlinks miteinander verbunden waren, doch schon nach wenigen Jahrenbegann der Möglichkeitsraum des Netzes sich auszudehnen. Es wurde zu einem Medium für Finanztransaktionen und somit auch zu einer Shoppingmeile, einem Auktionshaus und einem Kasino. Kurz darauf wurde daraus ein echtes Zweiwegemedium, die Nutzer konnten ihre eigenen Schriften genauso leicht veröffentlichen wie auf die anderer zugreifen, und daraus entstanden Formen, die die Welt noch nie zuvor gesehen hatte: von Nutzern angelegte Enzyklopädien, die Blogosphäre und soziale Netzwerke. YouTube machte das Internet zu einer der einflussreichsten Video-Distributionsplattformen überhaupt, und jetzt erobern digitale Landkarten das Netz und revolutionieren so die Kartografie.
Die Wirkungsweise des Nächstmöglichen zeigt sich auch in einem bemerkenswerten Muster der Geschichte menschlicher Erfindungen, das wir »Mehrfachentdeckung« nennen: Irgendwo auf der Welt hat ein Wissenschaftler oder ein Erfinder eine brillante Idee und geht damit an die Öffentlichkeit, nur um festzustellen, dass im letzten Jahr schon drei andere helle Köpfe, alle unabhängig voneinander, dieselbe Idee hatten. Im Jahr 1611 wurden die Sonnenflecken gleich von vier Astronomen entdeckt, die alle in verschiedenen Ländern der Erde lebten. In den Jahren 1745 und 1746 erfanden Ewald Georg von Kleist und Pieter van Musschenbroek unabhängig voneinander die elektrische Batterie. Joseph Priestley und Carl Wilhelm Scheele gelang es 1772 und 1774 als Ersten, das chemische Element Sauerstoff zu isolieren. Keiner der beiden wusste etwas von der Arbeit des anderen. Der Energieerhaltungssatz der Physik wurde in den späten 1840er Jahren von vier verschiedenen Leuten formuliert. 1899 spekulierte S. Korschinsky erstmals über die wichtige Rolle, die spontane Mutationen für die Evolution gespielt haben könnten, 1901 folgte Hugo de Vries mit seinen Schriften zum selben Thema. Zwei andere Gelehrte entdeckten 1927 unabhängig voneinander den Einfluss von Röntgenstrahlenauf die Mutationsrate. Das Telefon, der Telegraf, die Dampfmaschine, Elektronenröhren, das Radio – so gut wie jede wichtige technische Neuerung der Moderne wurde zur gleichen Zeit mehrfach entwickelt.
In den frühen 1920er Jahren beschlossen William Ogburn und Dorothy Thomas, zwei Soziologen an der Columbia University, alle Fälle von Mehrfachentdeckungen zu dokumentieren, die sie nur finden konnten. Das Ergebnis veröffentlichten sie in einem viel beachteten Aufsatz mit dem wundervollen Titel »Are Inventions Inevitable?« (dt.: Sind Erfindungen unvermeidbar?) Ogburn und Thomas fanden 148 Fälle von unabhängig voneinander gemachten Erfindungen, die meisten davon innerhalb desselben Jahrzehnts. Das ist eine beachtliche Anzahl, und wenn man die Liste durchgeht, sticht noch etwas ins Auge: Es könnte sich ebenso gut um eine Chronologie brillanter Ideen handeln. Mehrfachentdeckungen werden gerne etwas vage auf den jeweiligen »Zeitgeist« zurückgeführt, aber es gibt eine viel einfachere Erklärung. Gute Ideen entstehen nicht aus dem luftleeren Raum. Sie werden aus einer bereits bestehenden Sammlung zusammengefügt, und diese Sammlung vergrößert sich im Lauf der Zeit (nur manchmal wird sie stattdessen kleiner). Manche Bestandteile dieser Sammlung sind rein konzeptioneller Art: die allgemeine Herangehensweise bei der Lösung eines Problems etwa oder neue
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