Wo gute Ideen herkommen.: Eine kurze Geschichte der Innovation. (German Edition)
Nächstmöglichen.
Bei Babbages anderer brillanter Idee, der analytischen Maschine, sah die Sache schon anders aus. Sie wurde zum großen unerfüllten Projekt in Babbages Laufbahn, mit dem er die letzten dreißig Jahre seines Lebens zubringen sollte. Die Maschine war so kompliziert, dass sie, bis auf einen kleinen Teil, den Babbage kurz vor seinem Tod 1871 baute, nie über das Entwurfsstadium hinauskam. Doch zumindest auf dem Papier war die
Analytical Engine
der erste programmierbare Computer der Welt. Programmierbar heißt in diesem Fall, dass das Gerät nicht wie die Differenzmaschine nur für eine ganz bestimmte Rechenaufgabe gedacht war, sondern sich wie alle modernen Computer auf Basis von Programmen sozusagen selbst neu erfinden konnte. Babbages Entwurf nahm damit das Funktionsprinzip des modernen Computers vorweg: Die Analytical Engine arbeitete mit Programmen, die in Lochkarten gestanzt werden sollten, die wiederum einige Jahrzehnte zuvor für automatisierte Webstühle entwickelt worden waren; Daten und Anweisungen wurden in einem »store« aufbewahrt, dem Äquivalent zu dem, was wir heute Arbeitsspeicher nennen; die Berechnungen selbst wurden von einer Einheit ausgeführt, die Babbage in Anlehnung an den Sprachgebrauch zur Zeit der Industrialisierung »Mühle« nannte, um das zu beschreiben, was wir heutzutage CPU nennen. Die geniale Mathematikerin Ada Lovelace, einzige Tochter von Lord Byron, entwickelte mehrere solcher Rechenprogramme für die
Analytical Engine
und wird deshalb als die erste Programmiererin der Welt angesehen.
Babbages Entwurf war 1837 praktisch ausgereift, dennoch sollte es bis zum ersten programmierbaren Computer noch hundert Jahre dauern. Während die Differenzmaschine sofort von anderen aufgegriffen, verbessert und in der Praxis eingesetzt wurde,verschwanden die Pläne für die analytische Maschine wieder in der Versenkung. Viele von Babbages vorausschauenden Erkenntnissen mussten zur Zeit des Zweiten Weltkriegs erst von den Visionären der Computerwissenschaft wiederentdeckt werden.
Warum wurde Babbages brillant erdachte
Analytical Engine
ein solcher Fehlschlag? Man könnte jetzt natürlich behaupten, Babbages Ideen hätten den Rahmen des Nächstmöglichen gesprengt, aber das stimmt nur zum Teil, und die Wahrheit ist vermutlich viel profaner: Babbage hatte ganz einfach nicht die richtigen Bauteile. Selbst wenn es ihm gelungen wäre, eine Maschine nach seinen Plänen zu bauen, ist es fraglich, ob sie funktioniert hätte. Babbage lebte zur Zeit der Dampfmaschine, aber was er entworfen hatte, war ein Gerät für das elektronische Zeitalter. Die analytische Maschine war ein rein mechanisches Gerät, das aus unfassbar vielen kleinen Zahnrädern und Getrieben bestand, und der Informationsfluss innerhalb des Systems wurde durch ein sorgsam choreografiertes Ballett aus beweglichen Metallteilen gewährleistet – allein die Maschine zu warten, wäre der reinste Albtraum gewesen. Das weit größere Problem aber war die eher gemächliche Rechengeschwindigkeit. Babbage brüstete sich vor Ada Lovelace, dass sein Apparat innerhalb von drei Minuten zwei zwanzigstellige Zahlen miteinander multiplizieren könne. Doch selbst wenn er recht behalten hätte, hätten kompliziertere Berechnungen bei dieser Geschwindigkeit unsäglich lange gedauert. Die ersten Computer des digitalen Zeitalters konnten eine solche Aufgabe in wenigen Sekunden erledigen, und ein iPhone führt in derselben Zeit mehrere Millionen Berechnungen dieser Größenordnung durch. Programmierbare Rechenmaschinen brauchen Elektronenröhren oder besser noch integrierte Schaltkreise, in denen Informationen in Form kleinster Ströme fließen, und nicht rasselnd durch dampfbetriebene Metallgetriebe.
Etwas Vergleichbares hätte YouTube passieren können. Hätten Hurley, Chen und Karim zehn Jahre früher versucht, ihre Idee zu verwirklichen, das Projekt wäre spektakulär gefloppt, denn 1995, in den Anfangstagen des World Wide Web, lag ein Videoportal noch außerhalb des Nächstmöglichen des Internets. Zum einen verfügte die große Mehrheit der Web-User nur über langsame Einwählverbindungen, bei denen schon das Herunterladen eines kleinen Bildchens Minuten dauern konnte. Die damals üblichen 56 kbit/s Modems hätten für die durchschnittlich zwei Minuten langen YouTube-Clips eine Stunde gebraucht. Ein weiterer Schlüssel zu YouTubes Erfolg war die Tatsache, dass die Entwickler ihre Videos im bereits etablierten Flash-Format bereitstellen
Weitere Kostenlose Bücher