Wo gute Ideen herkommen.: Eine kurze Geschichte der Innovation. (German Edition)
Fragmente zerlegt und diese an verschiedenen Stellen ins eigene Notizbuch übertragen. Dort wurden sie erneut gelesen, es wurden neue Textausschnitte hinzugefügt und erneut umarrangiert. Lesen und Schreiben waren somit nicht voneinander zu trennende Vorgänge. Sie waren Teil der fortdauernden Anstrengung, die Welt um einen herum zu verstehen, denn die Welt war voller Zeichen. Man konnte sie lesen wie ein Buch, und indem man das Gelesene ins private Notizbuch übertrug, entstand ein neues Buch, das den Stempel der eigenen Persönlichkeit trug.«
Jedes Mal, wenn wir in unserem Kollektaneenbuch lesen, entdecken wir etwas Neues. Wir können verfolgen, wie sich die eigenen Ahnungen entwickelt haben, erkennen diejenigen, die sich als falsche Fährten herausgestellt haben genauso wie die, aus denen ein ganzes Buch wurde. In jeder dieser Begegnungen schlummert die Möglichkeit, dass eine längst vergessene Ahnung sich mit einer gerade gemachten Entdeckung verbindet.
Lockes Index schaffte gerade so viel Ordnung wie nötig, um einzelne Passagen wiederzufinden, ohne das Kollektaneenbuch seiner Flexibilität zu berauben. Ein zu rigides Ordnungsschema birgt das Risiko, dass eine vielversprechende Ahnung isoliert in einem Kapitel vor sich hinvegetiert. Wir finden sie nur schwer wieder, und die Ahnung kann sich umso schwerer mit anderen verbinden und ausweiten. Was wir brauchen, ist ein System, um Ahnungen festzuhalten. Dabei müssen wir sie nicht unbedingtkategorisieren, denn Kategorien bilden allzu leicht unüberwindbare Grenzen zwischen unseren Ideen und verbannen sie auf thematisch isolierte Inseln. Hier unterscheidet sich die Geschichte menschlicher Innovation von der in der Natur: Neue Ideen gedeihen nun mal nicht auf Inselgruppen.
An dieser Stelle verdient neben Erasmus Darwins Kollektaneenbuch noch ein anderer Vertreter umfangreicher Ideensammlungen Erwähnung: ein äußerst beliebter Ratgeber aus der viktorianischen Zeit mit dem einprägsamen Titel
Enquire Within Upon Everything
(dt. in etwa: Was immer Sie wissen wollen, schlagen Sie‘s hier nach). Schon der Einband des 1865 erstmals erschienenen Buches weist auf die immense Vielfalt an Anleitungen für die Aufgaben des Alltags hin:
»Ob Sie eine Wachsblume modellieren möchten, etwas über die rechten Umgangsformen wissen wollen, auf der Suche nach einem Rezept für eine köstliche Soße oder Vorspeise sind, ob Sie ein Abendessen für eine große oder eine kleine Gesellschaft planen, ein Mittel gegen Kopfschmerzen suchen, ein Testament schreiben, heiraten oder einen Verwandten beerdigen wollen – was auch immer Sie vorhaben, solange es mit den Angelegenheiten des häuslichen Lebens zu tun hat, schätze ich mich glücklich, Ihnen helfen zu können. Zögern Sie nicht und schlagen Sie‘s nach.
Der Herausgeber«
Über hundertmal wurde der Ratgeber neu aufgelegt und gehörte bis weit ins 20. Jahrhundert zur Grundausstattung britischer Haushalte. Eine verstaubte Ausgabe schaffte es sogar, im Haus eines Mathematiker-Ehepaares in den Londoner Vororten bis hinein in die 1960er Jahre zu überleben. Die beiden hatten einen Sohn,der fasziniert war von dem »Hauch des Magischen« im Titel des Buchs, und er verbrachte Stunden damit, dieses »Portal zur Welt der Information« zu erkunden. Der Titel blieb im Hintergrund seines Bewusstseins haften, und mit ihm das wunderbare Gefühl, wie es ist, einen riesigen Datenschatz zu erkunden. Über zehn Jahre später arbeitete er als Softwareberater in einem Schweizer Forschungslabor und war überwältigt von dem Ansturm an Information in dem Unternehmen. In einem Nebenprojekt begann er, an einer Applikation zu arbeiten, die ihm helfen sollte, einen Überblick über die Datenflut zu bewahren. Als es schließlich darum ging, dem Kind einen Namen zu geben, wanderten seine Gedanken unwillkürlich zurück zu der eigenwilligen Haushaltsenzyklopädie aus seinen Jugendtagen, und er nannte die Applikation »Enquire«.
Das Tool ermöglichte es, Informationen über Mitarbeiter und Projekte als Knoten in einem Netzwerk zu speichern, die alle miteinander verbunden waren. Klickte man den Namen eines Mitarbeiters an, erschienen automatisch auch alle Projekte, an denen der Betreffende gerade arbeitete. Das Tool erwies sich als äußerst nützlich, aber sein Programmierer wechselte bald den Job und kümmerte sich nicht mehr weiter darum. Stattdessen begann er ein paar Jahre später, an einer neuen Version zu arbeiten, die er »Tangle« nannte, doch
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