Wo gute Ideen herkommen.: Eine kurze Geschichte der Innovation. (German Edition)
nach einem Jahr wieder, und die Höhlen werden zum Nistplatz für Singvögel. Die Singvögel beziehen die verlassene Spechthöhle, ohne selbst eine Höhle zum Nisten schlagen zu müssen. Die von Bibern geschaffenen Feuchtgebiete schaffen also offene Plattformen, in denen Ressourcen geteilt und geschützt werden, und fördern damit Vielfalt, wie es die offene Plattform Twitter tut.
Wenn man vom Indian River Inlet im US-Bundesstaat Delaware 16 Seemeilen Richtung Osten segelt und dann etwa 30 Meter in die Tiefe taucht, erwartet einen am Grund des Atlantischen Ozeans eine vor Leben sprühende Unterwasserstadt. Unzählige Flundern, Zackenbarsche und Lippfische tummeln sich dort im sanft wogenden Seegras. Darunter entdeckt der überraschte Betrachter knapp 700 ausgemusterte U-Bahn-Waggons. Das Delaware Department of Natural Resources and Environmental Control hat sie im Lauf der letzten zehn Jahre vor der Küste versenkt und ein künstliches Riff geschaffen, in dem Muscheln und Schwämme Zuflucht finden, die sich andernfalls schwertun würden auf dem sandigen Boden. Künstliche Riffe sind ein idealer Laichgrund für die verschiedensten Fischarten, und dementsprechend hat die Biomasse im Delaware-Riff um ganze 400 Prozent zugenommen, seit die ersten Waggons dort versenkt wurden. Das künstliche Riff bietet sogar noch einen weiteren Vorteil: Es verhindert die Stranderosion. So haben die Waggons nach ihrer Ausmusterung eine neue Beschäftigung gefunden, und zwar als Ökosystem-Ingenieure.
Plattformen haben eine Vorliebe für Abfall, Ausschuss und achtlos liegen Gelassenes. Zackenbarsche und Muscheln, die in einem außer Dienst gestellten Waggon der New Yorker U-Bahn ein neues Zuhause finden, genauso wie die Singvögel, die sich in den verlassenen Nisthöhlen der Helmspechte niederlassen, spiegelnein Muster, das Jane Jacobs schon vor Jahren in der Entwicklung von Städten nachgewiesen hat: An brachliegenden Orten gedeiht Innovation ganz besonders. Emergente Plattformen beziehen einen großen Teil ihrer Kreativität aus der fantasievollen Wiederverwertung von vorhandenen Ressourcen, und, wie jeder Städter bestätigen kann, die teuerste Ressource in einer Großstadt sind die Immobilien. »Wenn man sich ein bisschen umsieht, fällt auf, dass sich im Allgemeinen nur etablierte Unternehmen mit hohem Umsatz, die entweder massentaugliche Ware anbieten oder stark subventioniert werden, Neubauten leisten können«, schrieb Jacobs. »Laden-, Banken- und Restaurantketten bauen neu, Eckkneipen, kleine Restaurants und Leihhäuser mieten sich in Altbauten ein. In einem Neubau findet man Supermärkte und Schuhgeschäfte, gute Buchhandlungen und Antiquitätenhändler eher selten.« Eine Schlussfolgerung hieraus lautet, dass risikobehaftete Geschäftszweige und kleinere Unternehmen es schwerer haben, in neu entstandenen Umgebungen unterzukommen als in bereits vorhandenen und entsprechend abgenutzten. Einkaufszentren sind eine vergleichsweise junge Erscheinung im Städtebau, und bis jetzt hat jedes auch noch so schlecht laufende es geschafft, seinem ursprünglichen Zweck treu zu bleiben: als Ort zum Einkaufen. Künstler, Internet-Start-ups oder Kleinunternehmer sucht man dort vergeblich. Im West Village in Manhattan, wo Jacobs lange Jahre gelebt hat, gibt es mittlerweile Straßen, die Einkaufszentren ähneln, doch im Lauf der vorangegangenen Jahrhunderte haben diese Gebäude den unterschiedlichsten Zwecken gedient: Sie waren Umschlagplatz eines Industriehafens, Haupt-bezugsquelle für Fleisch in einer Acht-Millionen-Stadt, Refugium der Beatniks und Aussteiger und Epizentrum der Schwulenbewegung. Jacobs argumentiert, dass im hektischen Großstadttreiben – der urbanen Variante der schöpferischen Zerstörung – automatisch ältere,wenig begehrte Umgebungen entstehen, in denen jene kreativen Subkulturen unterkommen, die Fischer als so wichtiges Merkmal des großstädtischen Lebens herausstellt. Wie die Fische in den Korallen um die Kokosinseln finden auch Künstler, Dichter und Unternehmer weit einfacher ein Dach über dem Kopf, wenn sie Gebäude beziehen, die von den ursprünglichen Erbauern längst verlassen wurden. In Jacobs Worten:
»Neue Ideen, ganz gleich wie profitabel oder erfolgreich manche davon eines Tages sein mögen, können sich ... kostspielige Neubauten einfach nicht leisten. Es kommt vor, dass alte Ideen in neue Gebäude umziehen, aber neue Ideen sind auf alte Gebäude angewiesen.«
Plattformen recyceln weit mehr als nur
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