Wo immer Du bist, Darling
»Was ist los?« Sie suchte den Tisch nach der Ursache für Anjas Schock ab. Außer einem offenen Päckchen, den Scherben eines zerbrochenen Glases und Holzwolle war nichts zu sehen.
Weil ihre Freundin überhaupt nicht reagierte, folgte Carolin, langsam ernstlich beunruhigt, Anjas gefrorenem Blick auf ihre Hände.
Was umklammerte sie denn da? Wenn es sich um etwas Perverses handelte, würde sie den Absender höchstpersönlich lynchen!
Mit zusammengekniffenen Augen versuchte Carolin, den Gegenstand zwischen Anjas verkrampften Fingern zu identifizieren.
»Ich werd verrückt!«, entfuhr es ihr, als sie plötzlich erkannte, was ihre Freundin nicht mehr loslassen konnte. Es war ein wunderschöner, perfekt geschnitzter Holzbär.
*
Anja konnte nicht mehr atmen, sie konnte nicht mehr sprechen, sie konnte überhaupt nichts mehr. Ihr Kopf dröhnte, und das gesamte Wohnzimmer pulsierte vor ihren Augen. Wie betäubt starrte sie auf den Inhalt ihrer Hände.
Das kann doch nicht sein.
Ihr Herz setzte aus und machte einen schmerzhaften Sprung. Dann noch einen und danach noch einen, bis es mit irrsinniger Geschwindigkeit gegen ihre Rippen trommelte.
Das kann doch unmöglich sein!
Nur am Rande registrierte sie, dass Carolin die Verpackung auf der Suche nach einem Absender herumdrehte.
Erst als diese leise vorlas »Calle Avenida, No. 6, esq/B, Tortuguilla … Cuba«, schaffte Anja es, aufzusehen.
Carolin schnappte nach Luft. »Mein Gott, Anja, er ist in Kuba! Ramon ist in Kuba!«
In ihren Ohren begann ein lautes Klingeln. Ihre Atmung stockte, dann knickten ihre Beine derart schnell weg, dass sie es nur mit Carolins Hilfe noch bis zum Sofa schaffte. Dort angekommen sackte sie zusammen, nicht mehr in der Lage, all die Gefühle zu verarbeiten, die mit der Macht eines Geysirs an die Oberfläche sprudelten.
Ramon ist in Kuba. Carolins Satz hüpfte durch ihren Kopf wie ein Pingpongball. Er ist in Kuba. Grundgütiger!
Es dauerte fast zwei Minuten, bis sie genug Sauerstoff in ihre Lungen gezwungen hatte, um sich wieder bewegen zu können.
Mit flatternden Fingern tastete sie nach dem Karton, las bestimmt zehnmal die von Hand geschriebene Adresse. Immer wieder verschwammen die Buchstaben vor ihren Augen, bis sie endlich begriff, was geschehen war, was das alles nur bedeuten konnte. Ramon befand sich in Freiheit!
Hohes Schluchzen löste sich aus ihrer Kehle. Er war nicht mehr in einem amerikanischen Gefängnis! Irgendwie hatte er es geschafft, in sein Heimatland zu gelangen.
Carolin nahm ihr die Schachtel aus den Fingern, schüttelte deren Inhalt auf den Tisch und suchte nach einer Karte oder einer Nachricht. Vergeblich. Es gab keine.
Anja brauchte auch keine. Die Schnitzerei sagte ihr mehr, als tausend Briefe es je vermocht hätten. Ramons damalige Worte, tief in ihrem Herzen eingegraben, hallten unvergessen durch ihr Bewusstsein.
Ich liebe dich, Anja. Immer, wenn du diese Figur ansiehst, wird sie dich daran erinnern.
Stumm weinend saß sie da, tastete mit den Fingerspitzen wieder und wieder über die schmerzlich vertrauten Linien seiner Arbeit. Ramon hatte ihr etwas geschickt, woran sie unverwechselbar erkennen konnte, dass es von ihm stammte. Er teilte ihr auf diesem Weg mit, dass er sie nicht vergessen hatte, dass er immer noch an sie dachte und er hatte seine Anschrift hinterlassen, falls sie sich entschied, zu ihm zu kommen.
Sie schnellte mit einer Geschwindigkeit auf die Füße, dass Carolin vor Schreck ebenfalls in die Höhe zuckte.
»Ich muss zu ihm!«, krächzte Anja und wischte sich energisch die Tränen aus dem Gesicht. »So rasch wie möglich.«
»Das habe ich mir fast gedacht. Wo fangen wir an?«
Sie blickten sich einige Augenblicke an, dann stürzten sie gleichzeitig los.
Anja hetzte in Carolins Zimmer, schnappte sich das Telefon und rief erst Marlene, dann Petra an. Aus den Augenwinkeln sah sie, dass ihre Freundin den Laptop anstöpselte, während sie zum zweiten Mal an diesem Abend mit Oliver telefonierte.
Sie hatte gerade das Gespräch mit Petra beendet, als Carolin schon einen Ausdruck aus dem Drucker zerrte. »Ich habe eine Air France-Maschine gefunden, die gegen Ende der Woche von Frankfurt aus nach Guantanamo fliegt. Früher geht’s leider nicht. Aber du musst ohnehin noch packen. Oliver hat versprochen, dir und Adrian bis dahin ein über die üblichen dreißig Tage hinaus geltendes Visum zu besorgen.« Sie ratterte die Daten geradezu herunter.
Anja nickte hektisch. »Morgen kommen
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