Wo immer Du bist, Darling
dankbar. Sie stand inzwischen so neben sich, dass er sich bestimmt Sorgen um sie gemacht hätte.
Anja nahm einige tiefe Atemzüge und beugte sich konzentriert wieder über die Karte, prägte sich die nächsten Wegkreuzungen noch einmal genau ein. Wenn sie sich jetzt auch noch verfuhr, würde sie eher im Irrenhaus landen statt an ihrem Ziel. Immer wieder sagte sie sich die Straßennamen auf, was jedoch nicht wirklich dabei half, ruhiger zu werden.
Sie faltete die Karte zusammen und stieg wieder ins Auto.
Es gelang ihr nicht, den Motor zu starten. Ihre Finger zitterten unkontrolliert, waren nicht fähig, den Schlüssel zu drehen.
Ihre Schultern begannen in lautlosem Weinen zu beben und bald schlotterte ihr ganzer Körper wie unter arktischer Kälte. Automatisch fasste sie in die Rocktasche und fand Ramons Figuren. Die alte und die neue. Das Gefühl des warmen Holzes beruhigte sie wie so oft. Sie strich zärtlich über die glatte Oberfläche und spürte die Konturen, die Ramons Hände erschaffen hatten.
Ganz ruhig, es ist nicht mehr weit. Du schaffst das. Alles wird gut. Gleich bist du bei ihm.
Einen Moment ballte sie die Hand, hielt die beiden Schnitzereien fest, schöpfte Kraft daraus, dann richtete sie sich wieder auf und drehte den Schlüssel mit einem energischen Ruck.
Dieses Mal sprang der Motor sofort an.
Kuba, Tortuguilla, 30.07.2012, 17:53 Uhr
Der Wagen rollte langsam aus und blieb schließlich stehen. Anja schluckte. Sie war angekommen. Vor ihr befand sich die gesuchte Adresse.
Mit steifen Fingern hielt sie sich am Lenkrad fest. Ihr Atem kam in kurzen Stößen und ihr Herz klopfte so verrückt, als wäre sie das letzte Stück Weg hierher gerannt. Ein schneller Blick nach hinten überzeugte sie, dass Adrian immer noch friedlich schlief.
Sie rieb sich die Tränenspuren von den Wangen und stieg aus. Leichter Wind bauschte den Rock um ihre Beine, als sie schwankend nach dem Autodach griff. Einige Sekunden starrte sie bewegungslos auf das kleine, palmenumsäumte Haus am Ende des kurzen Weges, unfähig, ihren rasenden Puls unter Kontrolle zu bringen. Ihre Knie zitterten dermaßen, dass sie sich nicht traute, ihre Finger vom Wagen zu lösen. Vor ihren Augen begann alles zu verschwimmen und ihr wurde furchtbar schlecht. Sie lehnte sich gegen die Autotür und atmete bewusst durch den Mund. Alles in ihr kämpfte dagegen an, in Ohnmacht zu fallen. Sie durfte nicht das Bewusstsein verlieren. Ausgerechnet jetzt, direkt vor dem Ziel. Angespannt wartete sie, wer siegen würde. Der Körper oder der Wille.
Ihr Wille gewann. Knapp. Erst nach mehrmaligem Blinzeln konnte sie das Haus wieder klar erkennen.
Es war leuchtend gelb gestrichen. Grüne Fensterläden hoben sich kontrastreich von der Fassade ab, deren Haustür einladend offen stand. Niemand war zu sehen.
Anja lockerte ihre verkrampften Finger und stakste los. Sie war erst wenige Schritte gegangen, da erschien ein alter, grauhaariger Mann im Türrahmen. Er wischte sich die Hände an einem bunten Geschirrtuch ab und trat ins Freie. Als sie sein Gesicht sah, wäre sie fast endgültig zusammengebrochen. Vor ihr stand eine ältere Version von Ramon. Die gleichen Gesichtszüge, die gleiche energiegeladene Haltung. Nur die Augenfarbe stimmte nicht.
Hätte sie noch irgendwelche Zweifel gehegt, dass sie sich an der richtigen Adresse befand, dieser Mann hätte sie ausgelöscht. Anja blieb regungslos stehen, überwältigt von der Tatsache, dass sie ihr Ziel endlich erreicht hatte.
Langsam kam der Kubaner auf sie zu, betrachtete sprachlos ihr Gesicht, ihre blonden Haare. Dann fuhr seine Hand ungläubig an seine Brust. » ¡Dios mío! « Er fasste nach ihrem Arm und nahm ihre eiskalten Finger in seine.
Anja schluckte. »Ich … ¡Buenos dias! «, sagte sie zaghaft, froh, dass sie sich in den letzten Tagen wenigstens ein Minimum an Sprachkenntnissen angeeignet hatte. » Yo busco Ramon Peréz. « Ihr Spanisch klang so holprig, dass sie überzeugt war, der Mann würde kein einziges Wort verstehen.
Aber der alte Kubaner lächelte sie an, schien längst zu wissen, wen sie suchte. »Er ist unten am Strand. Wie jeden Tag um diese Zeit«, antwortete er auf Englisch.
Erschüttert presste sie eine Hand vor den Mund. Ramon war wirklich hier. Er war hier, ganz in der Nähe.
»Mama?« Adrians dünne Stimme ließ sie herumfahren. Sie warf Ramons Vater, der sie gespannt ansah, einen kurzen Blick zu, dann ging sie zum Auto zurück und wischte sich hastig die Tränen
Weitere Kostenlose Bücher