Wo mein Herz wohnt: Mittsommergeheimnis (German Edition)
fallen.
Zugleich führte das Foto ihr aber auch vor Augen, wie vergänglich ihr Dasein doch war, ebenso wie das all der Menschen, die sie liebte.
Sie brauchte ja nur das Schicksal ihrer Familie zu betrachten, um das zu erkennen. In einem Moment noch das blühende Leben, im nächsten Augenblick konnte schon alles vorbei sein. Das Leben war nicht planbar, zudem eindeutig viel zu kurz, um es nicht jeden Tag aufs Neue bis zur Neige auszukosten.
Langsam ließ Finja das Bild sinken. Behutsam legte sie es wieder in die Schatulle und schloss den Deckel. Dann legte sie das Kästchen dorthin zurück, wo sie es gefunden hatte.
Mit einem Mal wusste sie, was sie tun musste. Entschlossen straffte sie die Schultern.
Als sie die schmale Stiege vom Dachboden hinunterkletterte, bemerkte sie die offen stehende Tür, die vom Korridor abging, sofort. Unwillkürlich fing ihr Herz an, heftiger zu klopfen. Es war die Tür zu Audreys Zimmer! Aber wie konnte das sein …?
Noch vor ein paar Stunden hätte sie vermutlich Hals über Kopf die Flucht ergriffen, aber jetzt nicht mehr. Sie wusste nun, dass es keinen Grund gab, sich vor Audrey zu fürchten. Diese Erkenntnis gab ihr die Kraft, sich dem Zimmer zu nähern, auch wenn es ihr zugegebenermaßen nicht gerade leichtfiel.
Ihr Atem ging stoßweise und gepresst, doch sie ging weiter und blieb erst im Türrahmen stehen. Der Anblick des Raumes, der sich seit Audreys Verschwinden nicht verändert hatte – ihre Eltern hatten lediglich die persönlichen Dinge des Au-pair-Mädchens zu ihrer Familie nach England zurückgeschickt, ansonsten jedoch nichts angetastet –, war in gewisser Weise unheimlich, aber auch tröstend. Fast glaubte sie, noch einen Hauch von Audreys Persönlichkeit zu spüren, die in diesen vier Wänden zurückgeblieben war.
Und dann trat plötzlich eine hellblonde Frau aus dem winzigen Badezimmer, das an das Mädchenzimmer angrenzte, und Finja atmete scharf ein. Im ersten Augenblick glaubte sie, Audrey vor sich zu haben, doch diese Illusion blieb nur wenige Sekunden lang bestehen. Dann erkannte Finja, wen sie wirklich vor sich hatte.
“Susanna?” Verständnislos schüttelte Finja den Kopf. Warum trug das Kindermädchen ihres Neffen eine blonde Perücke über ihrem dunkelbraunen Haarschopf? Und was hatte dieses lächerliche weiße Sommerkleid zu bedeuten, das angesichts des noch immer recht kühlen Wetters völlig unangemessen erschien? Finja brauchte nicht lange, um sich ihre Fragen selbst zu beantworten, und ihre anfängliche Verwirrung schlug in Zorn um.
Entsetzt starrte sie das Kindermädchen an. “Du warst das, nicht wahr?”, fragte sie mit zusammengekniffenen Augen. “Die Geräusche hier oben aus dem verschlossenen Zimmer, die geisterhafte Mädchengestalt am Seeufer … Aber warum? Was habe ich dir getan, dass du mich so quälst?”
Susanna hob abwehrend die Hände. “Ich … Es …” Dann brach sie plötzlich in Tränen aus. “Es tut mir leid”, schluchzte sie. “Ich wollte das nicht, aber …” Hilflos zuckte sie mit den Schultern. “Ich wusste einfach nicht mehr ein noch aus. Und dann kamen sie und boten mir genug Geld, um mich mit einem Schlag von meinen Sorgen zu befreien. Alles, was sie verlangten, war, dass ich ihnen dabei helfe, dich vor aller Welt unmöglich zu machen. Damit du nicht Linus’ Vormund werden kannst, aber …”
“Was redest du denn da? Wen meinst du?”, fragte Finja, doch dann begriff sie plötzlich, und das Entsetzen rollte wie eine Welle über sie hinweg. Das war es also! Sie schüttelte kaum merklich den Kopf. Nie hätte sie damit gerechnet, dass die beiden alten Leute so weit gehen würden. “Du sprichst von Linus’ Großeltern, nicht wahr? Den Bjorkmans!”
Nach kurzem Zögern nickte Susanna. “Bei der Praxisauflösung ihres Sohnes ist den Bjorkmans wohl deine Akte in die Hände gefallen, Finja. Aus der Akte konnten sie natürlich all deine Schwachstellen entnehmen. Sie wussten nicht nur von dem verschwundenen Au-pair-Mädchen, sondern auch, dass du wegen Audrey schlimme Schuldgefühle hattest.
Als die Bjorkmas mich engagierten, sagten sie mir ganz genau, was ich zu tun habe. Ich sollte dich mit ein paar Geräuschen verunsichern, mich sozusagen als Audreys Geist verkleiden, und …”
“Einen kleinen Jungen in Gefahr bringen?”, fuhr Finja sie an. “Oder was war an dem Tag, an dem Linus weggelaufen ist?”
“Nein, das war so nicht gewollt!”, wehrte Susanna sich verzweifelt. “Ja, ich war an dem Tag etwas
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