Wo niemand dich findet
Ein Saxofonspieler stand vor dem Mikrofon und spielte sich warm. Der Tisch, an dem sie heute Nachmittag gesessen hatten, war von einer Horde Studenten belegt.
Mit schwindender Hoffnung suchte sie alles ab. Er konnte überall sein, schließlich war er hier im Viertel aufgewachsen. Wie konnte sie sich nur einbilden, ihn zu
finden? Vielleicht war das vor der Pension nicht mal sein Wagen gewesen.
»Er ist oben.«
Alex drehte sich um. Vera stand hinter ihr und balancierte ein Tablett mit Getränken in der Luft. Sie deutete mit dem Kopf in eine Ecke des Raumes. Eine Treppe. Alex bemerkte sie zum ersten Mal.
Ihr Herz tat einen Satz.
»Danke«, sagte sie zu Vera.
»Keine Ursache.« Mit dem Tablett hoch über dem Kopf drückte sich die Bedienung an ihr vorbei. »Aber ich muss dich warnen, Herzchen. Er hat ziemlich miese Laune.«
Alex schlängelte sich durch die Menge. Die Treppe war steil, und sie stieg vorsichtig empor, weil ihre Schuhe nass und rutschig waren. Sie musste schrecklich aussehen. Nervös und unsicher fuhr sie sich durchs Haar. Oben hörte sie ein lautes Klacken.
Vier helle Lampen strahlten auf vier grüne, von Spielern umlagerte Billardtische herab. Da war Nathan. Sofort ging ihr Puls schneller. Er hielt einen Billardqueue in der Hand und war im Begriff, den Tisch zu umrunden, um den nächsten Stoß auszuführen.
Mit pochendem Herzen ging Alex auf ihn zu. Ihr gefielen die geschmeidigen Bewegungen, mit denen er sich über den Filz beugte. Unter dem grellen Licht zeichneten sich seine Züge scharf ab, und sie genoss seinen Anblick – das kantige Profil, das vom Bartschatten verdunkelte Kinn, das Spiel der Muskeln unter dem T-Shirt, als er zum Stoß ansetzte. Sie erfühlte den Moment, als er ihre Anwesenheit spürte, ohne dass er den Blick von dem
Spieltisch hob. Nach einer schnellen Bewegung mit dem Queue rollten die Kugeln klackend über den Filz.
Er richtete sich auf.
Sie sahen sich in die Augen. Ein gefährliches Funkeln lag in seinem Blick. Wie von einem Blitz getroffen blieb sie stehen. Die Feindseligkeit, die sie daraus las, ließ ihr das Blut in den Adern gefrieren.
Sie zwang sich weiterzugehen, und er wandte sich wieder dem Billardspiel zu. Unsicher sah sie sich um. Da entdeckte sie seine Jacke über einem Barhocker. Warum nicht? Sie steuerte darauf zu. An seinem Platz stand ein halbleeres Glas. Sie ließ ihre Handtasche zu Boden gleiten, stellte sich an den Tresen und winkte dem Barkeeper.
»Eine Cola mit Rum, bitte.«
Sie begutachtete sich im Spiegel hinter der Bar. Es war noch schlimmer als befürchtet. Ihr Haar war klatschnass, das dünne Kleidchen klebte ihr am Körper, allerdings nicht so, wie sie sich das wünschen würde. Sie strich sich das Haar hinter die Ohren und zupfte den feuchten Stoff von ihrer Haut, jedoch ohne großen Erfolg. Als ihr Getränk kam, nahm sie sofort einen großen Schluck.
Im Spiegel bemerkte sie, dass Nathan, während er seinen Queue mit Kreide einrieb, den Blick auf sie geheftet hatte. Sie drehte sich mit dem Stuhl um, um ihm in die Augen zu sehen. Er wirkte noch immer geladen, aber sie nahm sich vor, sich davon nicht einschüchtern zu lassen. Einen Augenblick später schlug sie die Beine übereinander und versuchte, mit möglichst unbeteiligter Miene das Geschehen an dem Billardtisch zu verfolgen.
Nathan hatte die Halben. Es sah aus, als würde er
gewinnen, und Alex fragte sich, warum er die von Vera erwähnte miese Laune hatte.
Vermutlich wegen ihr.
Sie betrachtete Nathans konzentriertes Gesicht. Er zielte und benannte die Ecke, in die er einlochen wollte. Dann führte er den Stoß aus.
Sie wandte sich wieder ihrem Getränk zu und stocherte darin herum. Eine Minute verging. Und eine zweite. Sie widerstand der Versuchung des Spiegels, verzichtete auf einen Blick zu ihm. Es war ein Fehler gewesen, hierherzukommen.
Über ihre Schulter hinweg bewegte sich eine Hand zum Tresen und ergriff das verwaiste Glas.
Sie drehte sich um und sah ihm ins Gesicht. »Hast du was gewonnen?«
Er trank das Glas in einem Zug leer. »Fünfzig Dollar.« Mit einem dumpfen Geräusch stellt er das Glas hinter ihr wieder ab. Den Arm ließ er jedoch ausgestreckt auf dem Tresen ruhen – und sperrte sie gewissermaßen ein.
»Nicht schlecht.«
Sein Gesicht war ganz nah, und sie spürte die Hitze, die von ihm ausging. Ihr Körper schien sie begierig aufzusaugen. Seine Augen funkelten noch immer gefährlich.
»Ich dachte, du bist schon unterwegs«, sagte sie mit rauer
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