Wo Schneeflocken glitzern (German Edition)
okay so.«
Delphine wackelte mit dem Finger. »Irgendwann kommt der Tag, an dem du auch mal einen guten Eindruck machen willst, das garantiere ich dir.«
»Ach was, bei wem denn? Ich lerne ja sowieso keine wichtigen Leute kennen«, wehrte Sophie ab. »Und dann ist es doch egal, ob ich Löcher in meinem Blazer habe oder nicht.«
»Wart’s nur ab«, sagte Delphine. »Vielleicht passiert es ja heute noch.«
»Das ist ungefähr so wahrscheinlich wie Schneeflocken im Sommer«, lachte Sophie.
Wie üblich kamen sie zu spät zum Frühstück. Überall roch es nach muffigem, feuchtem Toast, als sie die linoleumbedeckte Treppe hinunterknarzten. Kaum waren sie unten, hörten sie schwere Tritte vor sich und liefen der cordsamtbekleideten Gestalt ihres Klassenlehrers in die Hacken. Und prompt drehte er sich um, als sie an ihm vorbeischlüpfen wollten.
»Guten Morgen, Mädchen«, rief er fröhlich und schaute auf seine Uhr. »Ihr seid aber reichlich spät dran.« Sein Blick ruhte auf Delphine. »Vielleicht solltest du dir in Zukunft eine zeitsparendere Frisur zulegen, Delphine.«
Sophie senkte den Kopf, machte sich so klein wie möglich und starrte angestrengt auf den Boden. Auf diese Tour kam sie an den meisten Lehrern vorbei, ohne dass sie wirklich wahrgenommen wurde. Es war ihre Spezialität – ein nützlicher Trick. Aber heute Morgen klappte es nicht.
Mr Tweedie räusperte sich vielsagend. »Sophie?«, sagte er im letzten Moment, als sie schon dachte, sie sei ihm entwischt. »Kann ich kurz mit dir sprechen?«
»Aber dann komm ich zu spät zum Frühstück, Sir. Wir sind sowieso schon spät dran – das haben Sie ja selber gesagt.«
»Es dauert nicht lange. Und die anderen können dir sicher was holen.«
Delphine und Marianne verstanden den Wink mit dem Zaunpfahl und stürzten zum Speisesaal, nachdem Delphine noch ein »Tut mir leid« vor sich hin gemurmelt hatte.
Sophie wich dem bekümmerten Blick ihres Lehrers aus. Mr Tweedie runzelte nicht nur die Stirn, wenn ihm etwas gegen den Strich ging, nein, sein ganzes Gesicht legte sich in Falten. »Es geht um deinen Pullover, Sophie«, seufzte er.
Sophie zupfte schnell an ihrem anstößigen Strickpulli herum, damit die Löcher nicht so offen zu Tage traten.
»Und um deine Schuhe«, fuhr er fort. »Zerschlissene Ballettschuhe, die mit Bändern an den Füßen befestigt werden, stehen meines Wissens nicht auf der Uniformliste.«
Sophie schüttelte zerknirscht den Kopf.
»Hast du denn nicht an deinen Vormund geschrieben, dass du ein paar neue Sachen brauchst? Das hatten wir doch so besprochen, Sophie, oder nicht?«
Bei dem Wort »Vormund« blitzte vor Sophies Augen ein Bild von Rosemary auf – Rosemary mit ihrem jungenhaft kurz geschnittenen graublonden Haar, wie sie kerzengerade auf einem Hocker in ihrer blitzblanken kleinen Küche saß. Rosemary und Sophie hatten nichts gemeinsam und waren auch nicht miteinander verwandt. Nur eine Verkettung unglücklicher Umstände – der strömende Regen, der Mietwagen, den ihr übermüdeter Vater fuhr, und eine unübersichtliche Kurve auf einer dunklen Landstraße – hatte Rosemary und Sophie in jener schicksalhaften Nacht für den Rest ihres Lebens aneinandergefesselt. Rosemary war die einzige Freundin der Familie gewesen, die das Jugendamt nach dem Unfall erreicht hatte, und deshalb war Sophie vorübergehend zu Rosemary gekommen, bis irgendwo Verwandte ausfindig gemacht wurden. Aber Sophies Vater hatte kein »solides bürgerliches Leben« geführt, wie Rosemary immer betonte. Und Sophies Mutter war gestorben, als sie noch ein Baby war. Seither war ihr Vater mit ihr von Ort zu Ort gezogen, immer auf der Suche nach dem Wunderbaren. Freunde gab es nur wenige und Verwandte überhaupt nicht, wie sich bald herausstellte.
»Rosemary ist sehr beschäftigt«, murmelte Sophie, bohrte einen Finger in eines der kleineren Löcher in ihrem Pulli und zog es über ihren Fingernagel, um es auf diese Weise halbwegs zu kaschieren. Vorsichtig schaute sie in Mr Tweedies freundliches, zerfurchtes Gesicht auf und lächelte ihn an, obwohl ihr gar nicht danach zu Mute war. »Sie hat zurzeit viel am Hals und ich will ihr nicht auch noch zur Last fallen, wenn sie …« Weg ist , hätte Sophie beinahe gesagt, bremste sich aber noch rechtzeitig. Die Schule brauchte nicht zu wissen, wie oft Rosemary außer Landes war. Das würde nur neue Probleme schaffen.
»Aber es sind nicht nur dein Pulli und die Schuhe, Sophie, sondern alle deine
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