Wo Tiger zu Hause sind
Feuerstein.
Als Roetgen frühmorgens vom Signalton seiner Armbanduhr geweckt wurde, galt sein erster Blick der Hängematte von Moéma: Schlaff wie eine leere Haut hing sie da. Thaïs’ Gesicht hingegen erschien gerade überm Rand ihrer Matte, aufgequollen, mit verschmierter Wimperntusche und mit Panik im Blick. Sie beugte sich vor und erbrach sich auf den Sand, konvulsivisch würgend wie eine Katze im Todeskampf.
Das silberne Licht der eben weichenden Nacht badete die Szenerie. Eine Schneckenspur, dachte Roetgen, als er aufs Meer blickte. Der kaum mehr wahrnehmbare Wind trieb die Dunkelheit zu ungeordneten Ballungen zusammen, fern zum Horizont hin. Ein Hahn krähte, verstummte dann aber mitten im Vibrato, wie über das Gellen seiner eigenen Stimme erschrocken.
Eilig machte sich Roetgen zu Joãos Hütte auf. Wo Moéma wohl die Nacht verbrachte? Die Straße, voller widerlicher Abfälle, darunter sogar etwas wie eine in einen Slip gerollte Damenbinde, erinnerte an einen feuchten Strand nach einem verheerenden Sturm. Als er an der Bar von Seu Alcides vorbeikam, spürte Roetgen seinen Magen hochkommen und wandte den Blick ab.
João hockte unterm Vordach und bereitete sein Material vor. Er wirkte angenehm überrascht.
»
Bom dia, françês
… Ich hatte schon Angst, du kommst nicht«, lächelte er. »Siehst ja schlimm aus.«
»Schlecht geschlafen. Die Seeluft wird mir guttun.«
»Schön, dann wollen wir mal. Hier, das ist für dich«, er hielt ihm eine Art roter Plastikkugel hin, wie ihm selbst bereits eine an einem Strick um die Schulter hing, »da tust du rein, was du in der Tasche hast, Zigaretten, Feuerzeug, alles, was nicht nass werden darf.«
Genauer betrachtet, war es eine alte Landeboje, wohl als Treibgut gefunden; ein großer Korken verschloss eine kreisrunde, oben hineingeschnittene Öffnung. Ein Strick daran, und fertig war ein wasserdichtes Aufbewahrungsgefäß.
Sie gingen die Straße bis zu einem blauen Häuschen hinunter, das sie ohne anzuklopfen betraten.
»Morgen!«, grüßte João den noch im Halbschlaf an seinem Ladentresen dämmernden
Caboclo
. »Beeil dich, der Wind dreht bald …«
Ohne ihn einer Antwort zu würdigen, stand der Mann grummelnd auf. Mit leguanhafter Langsamkeit legte er ein Stück
Rapadura
, einen Kerzenstummel, eine Schachtel Streichhölzer und einen Papierkegel mit gekochtem Maniokmehl, eine
Farofa
, vor sich hin.
»Und der da?« Er deutete mit Kinn auf Roetgen.
»Vertritt Luís«, antwortete João genervt. »Gib ihm seine Sachen.«
»Sicher?«
»Frag nicht lang. Ist alles mit Luís abgesprochen … Und beweg dich ein bisschen, wir haben’s eilig!«
Mit misstrauischem Blick setzte sich der Leguan wieder in Bewegung und legte noch einmal dieselben Dinge auf den Tresen.
»Verstau das in deiner Kugel,
rapaz
, und los geht’s«, meinte João zu Roetgen.
Sie gingen hinaus, ohne zu zahlen, und im Weitergehen erläuterte der Fischer ihm das System: Die »Kooperative« gehörte dem Ausrüster der Jangadas, einem Typen aus Aracati; bei jeder Ausfahrt bekamen die Fischer dieselben kläglichen paar Dinge gestellt, und bei der Rückkehr wurde ihr Anteil am Fang in Kredit für diesen Laden umgerechnet. Ein bargeldloses System, das die Abhängigkeit der Fischer und das gute Einkommen des Ausrüsters garantierte.
Empört wollte Roetgen mehr über den Ausrüster wissen, aber Joãos Fatalismus war undurchdringlich: So ging es an der gesamten Küste zu, daran gab es nichts zu rütteln, man musste Gott und dem Kerl für diese Chance zum Überleben dankbar sein.
Am Scheitel der Düne angelangt, folgten sie dem Höhengrat bis zu einer Stelle, wo einiges Gestrüpp wuchs. Mit einer Machete schlug João dürre Ranken ab.
»Fürs Kohlebecken«, sagte er, als er Roetgen einen ersten Armvoll zu tragen gab. »Wir haben zwar schon einiges an Bord, aber was man hat, das hat man. Man kann nie wissen.«
So arbeiteten sie sich Strauch um Strauch vor, bis João seinen Begleiter auf eine Spur im Sand hinwies, ein kurviges Geschlängel, das auch ein Gartenschlauch so hätte hinterlassen können.
»Cobra de veado …«
, murmelte er und folgte der undeutlichen Spur mit Blicken.
Dann schlich er bis hin zu einem Dornenstrauch, dessen Äste er vorsichtig auseinanderbog: Mittendrin schlief zusammengeringelt eine gar nicht so kleine Python; mag sein, sie verdaute einen nächtlichen Fang. Bevor sie aufwachen konnte, hatte João ihr bereits den Kopf abgeschlagen.
»
Matei o bicho!
Ich hab das
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