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Wo Tiger zu Hause sind

Wo Tiger zu Hause sind

Titel: Wo Tiger zu Hause sind Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jean-Marie Blas de Roblès
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brauchte man die Einzelteile nur wieder zu umwickeln, um das Boot klarzumachen. Desgleichen der Bug, dessen schlichte Formen Reparaturen ohne Zimmermann ermöglichten. Nichts entging dieser Verweigerung des Metalls, nicht einmal der spezielle Anker, der
tauaçu
, ein seilumwickelter Stein, verbunden mit einigen im Feuer gehärteten Ästen, vier an den Enden zum Rechteck gebunden, dazu zwei diagonal über Kreuz, um das Gestell zu vervollständigen und in Algen oder Sand zu greifen. Wiederum das stets gleiche Prinzip – war es nur einfach ökonomisch, oder lag ihm etwas Unerkanntes, Wesentlicheres zugrunde? –, dem die einfachsten technischen Konstruktionen folgten: Drei Äste hätten nicht genügt, um den Stein zu halten, ein fünfter wäre überflüssig gewesen … Ein Theorem, das erklärte, warum die grundlegenden Elemente des Holzbaus seit Jahrtausenden unverändert geblieben waren. Ob römische Villa oder provenzalisches
Mas
, Katharerschloss oder venezianischer Palazzo: Bei allen vergleichbaren Gebäuden fand man dieselben Maße von Balken, Pfosten, Sparren – zu dünn, gibt das Holz nach, zu dickes Material bedeutet Verschwendung. So beruhten die Regeln der Baumeister noch vor aller Materialkunde auf der Erkenntnis eines guten Mittelwegs, der sich im Laufe der Zeit durch die Praxis ergeben hatte.
     
    Eine plötzliche Aktivität riss Roetgen aus seinen Gedankenspielen. Auf einen Zuruf von João, der die Leine des Großsegels löste, nahmen die beiden Fischer Fock und Mast auseinander und wickelten das Segeltuch rasch um den Mastbaum. Dann half João ihnen dabei, die Antenne aus ihrer Führung zu nehmen und sie mitsamt dem Mast längs in den Bootsrumpf zu legen. Mit gekappten Flügeln trieb die Jangada nun reglos auf dem grünen Wasser, nichts mehr als ein schmächtiges Floß, das ein paar Holzstücke trug, ein unsteuerbares Etwas, kaum geeignet, sich den Härten der hohen See zu stellen. Sie warfen Anker. Die Sonne ging auf; ringsum war kein Land mehr zu sehen.
    Paulino und Isaac hatten sich auf eine Seite gesetzt, die Füße im Wasser; instinktiv ließ Roetgen sich gegenüber nieder, knapp zwei Meter von João entfernt. Er fragte sich gerade, was sie wohl als Köder verwenden würden, da ließ João schon seine mit Haken besetzte Schnur ins Wasser, ohne sie zu bestücken. Die Leine berührte bald Grund – tiefer als zwanzig Meter schien das Meer hier nicht zu sein –, und João zog mit weit ausholender Bewegung immer wieder an ihr, wie beim Angeln mit Grundblei.
    »Habt ihr denn keine Köder?«, fragte Roetgen verblüfft.
    João schien von der Frage überrascht. So machten sie es eben, alle. Von den glitzernden Haken angezogen, biss immer irgendetwas an, das sie dann als Köder für größere Fische nahmen.
    Schweigend, schläfrig vergingen die folgenden Stunden, in denen die vier Männer unter der Sonne demselben Handwerk nachgingen. So könnte die Zusammenfassung eines avantgardistischen Theaterstücks aussehen, dachte Roetgen angesichts der Absurdität der Szene:
Auf dem Atlantik treibend, tauchen vier Schiffbrüchige immer wieder ihre nackten Haken ins Wasser.
    Reglose See zwischen Ebbe und Flut, Brennen im Nacken, knarrendes Holz, marionettenhafte Bewegungen, ruckartig, jäh bisweilen wie zuckende schlafende Leiber …
    Gegen Mittag reute es sie, dass sie ihren Zuckervorrat schon so früh aufgebraucht hatten.
    Roetgen tat es den anderen gleich und steckte sich immer wieder eine Prise Maniokmehl in den Mund, gerade genug, um den Hunger in Schach zu halten, was allerdings auch die Lust steigerte, noch einen Schluck aus dem Wasserkanister zu nehmen. Je mehr Zeit verging, desto fieberhafter wurden die Gesichter, desto nervöser, flüchtiger die Bewegungen der Hände, wie um das, was sie im Wasser erhofften, besser zu bezirzen. Immer öfter wechselten sie die Hand, die Muskeln ermüdeten bei der monotonen Arbeit.
    Im quälenden Griff des Hungers flehen vier Schiffbrüchige vergebens den Gott der Meere an … Von nervösen Ticks heimgesucht, versuchen vier Schizophrene, Fliegen in Essigfallen zu fangen … Erstarrt verfluchen vier Seeleute Gott, das Meer und die Fische, dann beschließen sie, den Schiffsjungen aufzuessen …
    »Hier, tu dir das auf den Kopf« – irgendwann hatte João ihm ein angefeuchtetes Stück Sacktuch gegeben –, »sonst holst du dir noch einen Hitzschlag.«
    Erst da fielen ihm die Strohhüte der drei anderen auf.
    Gegen drei Uhr nachmittags stieß João einen Fluch aus

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