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Wo Tiger zu Hause sind

Wo Tiger zu Hause sind

Titel: Wo Tiger zu Hause sind Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jean-Marie Blas de Roblès
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der gebannten Aufmerksamkeit des Fischers angestachelt, malte er ihre funkelnden Augen aus, die gewaltigen Reißzähne, und am Ende schilderte er in epischer Breite die Fabel vom Schäfer und dem Wolf, als handelte es sich um eine wahre Geschichte.
    »Er hat bekommen, was er verdient hat«, meinte João nach kurzem Nachdenken, als er vom tragischen Ende des Schäfers gehört hatte. »Es ist traurig, aber es ist wahr. Wer immer lügt, dem glaubt man nicht. Es ist ihm ergangen wie meinem Schwager, nur um sich interessant zu machen, hat der zwei Jahre lang überall herumerzählt, seine Frau würde ihn betrügen. Bis sie ihm eines schönen Tages dann wirklich Hörner aufgesetzt hat! Aber sag mal,
françès
, deine Familie, wohnt die in einem Dorf?«
    »Nein, in der Stadt. In Paris, schon mal gehört?«
    »Ich glaube schon … aber weißt du, ich bin ja nie zur Schule gegangen. Das ist bei
Nova York
, oder?«
    »Nicht so ganz …« Roetgen war fasziniert von einer Weltsicht, in der Geographie eine so geringe Rolle spielte. »Ich erklär’s dir …«
    Aber er konnte versuchen, was er wollte, weder die Weltkarte, die er auf den Planken entwarf, noch all seine Versuche einer Abstrahierung konnten seinem Gegenüber auch nur das entfernteste Bild vom Planeten zeichnen. João war nie weiter gereist als bis nach Aracati zum Ausrüster des Schiffs – drei Stunden Fußmarsch – und einmal als Kind zur Abtei von Canindé, um dem heiligen Franziskus für die Rettung seiner Mutter von den Pocken zu danken. Acht Stunden im Bus, an die er sich verschwommen, aber verwundert erinnerte. Er konnte weder schreiben noch lesen, hatte einen Fernseher nur kurz ein einziges Mal hinter einem Schaufenster in der Stadt gesehen – alles, was er wusste, entsprang seiner eigenen Erfahrung oder den Liedern der
cantadores
, die es manchmal bis in die Bars von Canoa schafften. Dass die Erde rund sei und die Menschen zum Mond geflogen waren – auch das beides war ihm unbegreiflich, aber er nahm die Neuigkeiten mit erlesener Höflichkeit auf. Alles, was nicht mit seinem Dorf zu tun hatte oder mit seinem Beruf oder was er nicht mit eigenen Augen in Brasilien gesehen hatte, waberte in einem undeutlichen Nebel, in dem die Dinge und Orte Zufallsnachbarschaften eingingen, ganz wie sie eines schönen Tages einmal in sein Gedächtnis geraten waren. São Paulo, New York, Paris … Kurz, eine andere Welt, ein von seinem Alltag Lichtjahre entferntes Universum, etwas unscharf Virtuelles, das ihm fremd und unbegreiflich bleiben würde.

Serra da Aratanha
    Menschenfett, um die Raumschiffe vor kosmischer Strahlung zu schützen!
    »Aber ich sage dir doch, so eine Explosion zerfetzt einfach jeden! Firmina, sei vernünftig – auch ein Ochse, auch ein Elefant wäre danach Hackfleisch!«
    »Das sagst
du
, aber
ich
sage, hinter dem Massaker steckt das kopflose Maultier. Damit kenne ich mich aus, glaube mir …«
    Es war vier Uhr morgens. Seit Onkel Zé vor einer Stunde zurückgekommen war, fragten Firmina und Nelson ihn nach der Katastrophe aus. Als Hilfe kam, waren die Leichenfledderer verschwunden wie von Zauberhand. Dank der Passagierlisten wusste man, dass sich eine bekannte Persönlichkeit in dem Flugzeug befunden hatte, ein Dichter, Zé konnte sich an den Namen nicht erinnern, aber die Rettungskräfte wollten seinen Leichnam unbedingt identifizieren. Bei manchen der makabren Details, die sie ihrem Bruder entlockt hatte, bekreuzigte Firmina sich entsetzt: Sie erkannte darin die infernalische Handschrift der
mula-sem-cabeça
, des kopflosen Maultiers … Nur diese Ausgeburt der Hölle konnte die Opfer derart zerstückelt haben, und es war ganz gewiss nicht nur eines allein!
    »Das kopflose Maultier?« Nelson sah die alte Frau fragend an.
    »Wie denn? Hast du nie davon gehört? Also, wenn eine junge Frau es vor der Hochzeit tut, oder eine schon verheiratete Frau mit ihrem Vater, na, dann verwandelt sie sich in ein kopfloses Maultier … Freitagabends spukt es herum und wandert durch die
mata
. Den Lebenden, auf die es trifft, frisst es die Augen weg, sämtliche Fingernägel und Zähne; Tote oder Kranke zerfetzt es und zerstreut ihre Gliedmaßen auf seinem Weg. Ihm entgeht niemand!«
    »Aber wie macht es das, wo es doch keinen Kopf mehr hat?« Nelson war sichtlich eingeschüchtert von der Vorstellung dieses Ungeheuers.
    »Das weiß niemand, das ist ja das Schreckliche … Aber renne bloß niemals zu Mitternacht an einem Kreuz vorbei, dann lockst du es an,

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