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Wo Tiger zu Hause sind

Wo Tiger zu Hause sind

Titel: Wo Tiger zu Hause sind Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jean-Marie Blas de Roblès
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wir was extra für die Lebern und die Flossen.«
    »Warum das?«
    »Die Lebern gehen an Labore. Ich weiß nicht genau, es heißt, die sind gut für Medikamente, für Cremes … Und die Flossen werden den Chinesen verkauft. Die essen die besonders gern. Gibt es bei dir zu Hause auch welche?«
    »Haie oder Chinesen?«
    »Haie …«
    »Nicht so viele wie hier. Außerdem sind sie weiter im Tiefen, im offenen Meer draußen.«
    »Und Brassen?«
    »Fast keine mehr. Sind überfischt. Genau wie alle anderen, es gibt Arten, die ganz weg sind …«
    »Wie denn das?« João war ganz entsetzt von so etwas Unglaublichem.
    »Ich sag’s ja, überfischt, industriell, und dazu die Umweltverschmutzung … Eine Katastrophe!«
    Der Fischer schnalzte mehrfach mit der Zunge, um seine Missbilligung auszudrücken.
    »So was ist doch bei Gott unmöglich! Und ist das weit weg, dein Zuhause?«
    »Frankreich, meinst du?«
    »Was weiß ich, da, wo du herkommst.«
    »Fünftausend Kilometer ungefähr.«
    João runzelte die Brauen:
    »Wie viele Stunden im Bus sind das?«
    Das ernste Gesicht des Fischers ließ keinen Zweifel: Er hatte nicht die geringste Vorstellung davon, wo sich Frankreich befand, und ein Bild von einer Entfernung konnte er sich nur machen, wenn er sie in die einzigen ihm bekannten Maße umrechnete, für kürzere Strecken Tagesmärsche, für längere Busstunden. Darauf war Roetgen nicht gefasst und gab die Entfernung in Flugstunden an, doch die mangelnde Reaktion zeigte, dass auch das seinem Gegenüber nichts sagte. Also überschlug er im Kopf die Entfernung, die die Jangada pro Tag zurücklegen mochte, und trug dem Fischer das Ergebnis vor: Zwei Monate Fahrt, unablässig ostwärts, unter der Voraussetzung, dass der Wind die ganze Zeit über günstig und stetig sei.
    »Zwei Monate!?« Diesmal war João sichtlich beeindruckt. Er schwieg einen Augenblick mit nachdenklichem Gesicht, dann kam er auf sein Thema zurück.
    »Und gibt es bei euch in der
mata
auch Jaguare?«
    »Weder Jaguare noch Urwald.«
    »Und Gürteltiere?«
    »Auch keine …«
    »Boas, Termitenhügel, Papageien?«
    »Nein, João. Wir haben andere Tiere, aber bei denen ist es wie mit den Fischen, viele sind nicht mehr übrig.«
    »Aha …« Der Fischer war von einem Land enttäuscht, in dem es so sehr am Wesentlichen fehlte. »Nicht mal Kaimane? Und Mangos, habt ihr wenigstens Mangobäume?«
    Wir haben Hochgeschwindigkeitszüge, den Airbus, Raketen, João, wir haben Computer, die schneller rechnen, als ein Gehirn denkt, und ganze Lexika enthalten. Wir haben eine großartige literarische und künstlerische Vergangenheit, die größten Parfümeure und geniale Stilisten, die produzieren Negligés, so kostbar, dass drei deiner Leben nicht reichen würden, um auch nur den Saum zu bezahlen. Wir haben Kernkraftwerke, deren Abfälle zehntausend Jahre lang tödlich giftig bleiben, oder auch länger, keine Ahnung … Stell dir das vor, João, zehntausend Jahre! Als ob die ersten Homo sapiens uns Mülleimer hinterlassen hätten, die bis heute alles um sich herum verseuchen. Und wir haben ganz fabelhafte Bomben, kleine Wunderwerke, die deine Mangobäume, Kaimane, deine Jaguare und Papageien und ganz Brasilien wegputzen könnten. Ja, sogar deine Gattung, João, die gesamte Menschheit! Aber Gott sei Dank haben wir auch eine sehr hohe Meinung von uns selbst …
    Roetgen erkannte, der Versuch war sinnlos, ihm eine Realität zu beschreiben, die, das wurde ihm plötzlich bewusst, nur noch dank ihrer Selbstzufriedenheit zusammenhielt. Sein Versuch, die westliche Zivilisation zu skizzieren und sich selbst anhand ihrer zu definieren, scheiterte daran, dass er kein einziges Detail zu nennen vermochte, das diesen Mann hätte interessieren können. Einen Mann, für den die natürlichen Reichtümer der Erde, die Sonne, der Einfluss des Mondes auf dieses und jenes Tier oder Pflanze, noch von Bedeutung waren; ein intelligentes, sensibles Wesen, das aber in einer Welt lebte, in der Kultur noch im ursprünglichen Wortsinn verstanden werden musste, als Humus, als Untergrund.
    Er schämte sich João gegenüber wie ein Angeklagter vor seinem Richter, und so erfand er eine Lebenswelt, die mit seiner vergleichbar sein mochte. Er mischte mit den Fabeln seiner Kindheit die eine oder andere Zutat mittelalterlicher Geschichte, erzählte, wie die Wölfe ganze Winternächte lang die Dörfer belagerten, er heulte hier im Schiffsbauch, wie sie es im Schnee täten, in französischen Wintertälern. Von

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