Wo Tiger zu Hause sind
unablässig abbrannte, fuchtelte und rief, erschien er Sinibaldus als die Inkarnation des Trismegistos selbst.
Frühmorgens sperrte der Alchimist seine Frau im Labor ein, überreichte seinem Gastgeber feierlich den Schlüssel, wiederholte die Ermahnungen des Vortags & ging. Erschöpft von der schlaflosen Nacht, zog Sinibaldus sich auf sein Zimmer zurück, wo er bald einschlief, erfüllt von den schönsten Hoffnungen, Illusionen & Glücksgefühlen.
Gegen ein Uhr Mittag erwachte er & ließ sogleich ein Mahl zubereiten, das er selbst der schönen Mei-Li brachte. Den Anweisungen des Alchimisten gemäß, schlug er die Augen nieder & verschloss die Tür sogleich wieder, nachdem er drinnen das Tablett auf den Boden gestellt hatte. Wieder in seinem Zimmer, peitschte er sich lange, dann vertiefte er sich bis zum Abend ins Gebet.
Als er zur Abendessenszeit ein neues Tablett mit Nahrung ins Labor brachte, das erste Mahl jedoch unangetastet fand, war er so überrascht, dass er einen Blick ins Innere des Raumes wagte: Von einer kleinen Glaslaterne spärlich beleuchtet, lag Mei-Li zu Füßen des Altars. War sie krank, lag sie gar im Sterben? Sinibaldus verriegelte die Tür hinter sich und eilte der jungen Chinesin zur Seite …
Kaum hatte er sie geschüttelt, da öffnete sie tränenüberströmt die Augen, fiel ihm um den Hals und brach in seinen Armen in bitteres Weinen aus, was Sinibaldus nicht wenig bestürzte, obgleich er beruhigt war, sie am Leben zu finden. Kurz fürchtete er, sie könne einen nicht wiedergutzumachenden Fehler bei der Überwachung des Hohen Werkes begangen haben, & wandte den Blick zum Ofen, der jedoch bullerte, wie es sich gehörte; nichts schien vernachlässigt worden zu sein. Aller Sorgen in dieser Hinsicht enthoben, versuchte er, das hinreißende Wesen zu trösten, das sich an seiner Schulter dem tiefsten Kummer hingab. Nach vielen guten Worten & keuschen Berührungen konnte er Mei-Lis Tränen trocknen und ihr einige Worte zur Erklärung ihrer Verzweiflung entlocken:
»Oh, werter Herr!« Immer noch ließen Schluchzer ihre Stimme stocken. »Wie soll ich es Euch gestehen, ohne Euren Zorn zu wecken? Ihr wart so gut zu uns & habt uns so viel Vertrauen erwiesen. Lieber möcht ich tausend Tode sterben … Wie nur habe ich es verdient, dass solche Schande & Unglück über mich kommen?«
Sie sprach mühelos Italienisch, doch mit einem Akzent, der sie noch liebreizender machte. Sinibaldus ermunterte sie zu reden, schwor ihr, ihr werde verziehen, was es auch sei. Die Frau, die er so lange schon insgeheim liebte, jetzt lag sie hingegeben an seiner Brust. Ihr orientalisches Gewand hatte sich gelöst und legte einen festen Busen frei, den er an seinem Leibe beben spürte. Ihrem schweren, schwarzglänzenden Haar entströmte ein berauschender Duft; ihr flehender Mund schien die süßesten Küsse zu erbetteln, & die Glut ihres Gesichtes sprach viel mehr von Liebe als von Verzweiflung. Restlos entbrannt, hätte Sinibaldus für einen einzigen Wink von Mei-Li das ganze Hohe Werk in die Brennnesseln geworfen …
Als sie sah, dass es so weit mit ihm gediehen war, erklärte die listige Chinesin ihm endlich die Gründe ihrer Verzweiflung: Salomon Blauenstein sei ein heiliger Mann, ein zärtlicher & aufmerksamer Gatte, ein Alchimist von einzigartigem Wissen & Erfahrung, doch werde es ihm nie gelingen, das Lebenselixier herzustellen, denn nur sie selber kenne eine letzte Bedingung. Sie habe nie gewagt, sie ihrem Manne mitzuteilen, so sicher sei sie, dass er lieber auf seine Suche verzichtet als diese Bedingung erfüllt hätte. Für die tatsächliche Transmutation, nicht die des Goldes, die eine einfache Sache sei, sondern des wirklichen Jungbrunnens, bedürfe es einer anderen Zutat als nur unbelebter Materie …
»Wie sollte auch etwas Lebloses«, fragte die Hexe, »Unsterblichkeit bescheren können? Ihr versteht, dass das unmöglich ist & dass aus diesem Grunde alle Alchimisten bis heute gescheitert sind. Alle außer wenigen Meistern in meiner Heimat, die um die Wahrheit wussten und sie zu ihrem größten Nutzen befolgten.«
»Aber was denn für eine Zutat? Redet, ich flehe Euch an!«
»Diese geheime Zutat, edler Herr, diese wahrhaftige
materia prima
, ohne die keine Transmutation gelingen kann, ist der menschliche Samen, jenes metaphysische Konzentrat der göttlichen Gnade, durch welches das Leben entsteht & sich erneuert. Und selbst dies genügt noch nicht, es bedarf auch der Liebe, denn einzig die
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