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Wo Tiger zu Hause sind

Wo Tiger zu Hause sind

Titel: Wo Tiger zu Hause sind Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jean-Marie Blas de Roblès
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ihrer Freundin keinerlei Rechenschaft schuldig. Die Liebe, die sie füreinander empfanden – und dieses Thema diskutierten sie jedes Mal grundsätzlich, wenn die eine unter den Eskapaden der anderen litt –, war weit über körperliche Verirrungen erhaben, so meinten sie. Statt sie zu gefährden, »befruchtete« diese Autonomie ihre Beziehung, ließ sie größer werden … Da diese naive Großmütigkeit allerdings weder gegen Eifersucht noch gegen verzweifelte Verlassenheitsgefühle half, hatten sie sich angewöhnt, ihre Alleingänge möglichst diskret zu handhaben. Also hoffte Moéma, Thaïs gar nicht erst zu begegnen, doch da fiel sie ihr schon auf; sie tanzte mit Marlene. Ertappt, beantwortete sie Thaïs’ Blick, indem sie sich mit der Hand Luft zuwedelte, à la ihr sei zu heiß und sie gehe nur mal raus an die frische Luft … Als sie auf ihre kleine Pantomime nichts als ein traurig-ungläubiges Lächeln erntete, wandte Moéma sich verärgert ab. Draußen waren sie dann im Dunkeln bis zur Hütte hochgegangen, wo Moéma ihren Vorrat an
Maconha
holen wollte, bevor sie zum Strand gingen.
    Am Wasser war der Wind, der über die Dünen peitschte, noch schärfer zu spüren. Aynoré sprach nicht; von Zeit zu Zeit fühlte Moéma seine Hand leicht an ihrer, während sie unter den Windböen einhertaumelten. Einige hundert Meter weiter hatten sie sich im Windschutz hinter einer auf den Strand gezogenen Jangada hingekauert, und Moéma rollte einen Joint. Im ohrenbetäubenden Rauschen der Wellen trieb sie beide etwas aus den Tiefen der Zeit, ein unbegreiflicher und beängstigender Lärm dazu, sich aneinanderzuschmiegen. Moéma nahm einen ersten Zug aus der unförmigen Zigarre, die sie im Wind hatte rollen können, Aynoré dann auch, und er fing mit sanfter Stimme an zu sprechen: Genau so hatte die Welt begonnen, mit einer Frau, die aus ihrer eigenen Nacht getreten war, und mit einer magischen Zigarre …
    Sie atmete ihre Gedanken aus: Die hatten die Form einer Kugelwolke, von einem Türmchen überkrönt, ein kuppeliger Unterschlupf von der Form des Bauchnabels eines Neugeborenen. Beim Ausdehnen nahm diese Kugel die gesamte Dunkelheit in sich auf, so dass das Finstere darin gefangen blieb. Als dies geschafft war, nannte Yebá Beló ihren Traum »Bauch der Welt«, und dieser Bauch schien ein großes, menschenleeres Dorf zu sein. Nun wollte sie Menschen dort haben, wo nichts war, und sie kaute wieder das Ipadu und rauchte ihre Zigarre …
    Aynorés Vater war der
pajé,
der Schamane des Dorfes gewesen, irgendwo im amazonischen Urwald, am Zusammenfluss des Amazonas mit dem Rio Madeira. Als angesehener Zauberer, geistlicher und politischer Führer des Dorfes, heilte er die Kranken mit Tabaksaft und Abkochungen von Pflanzen, deren Rezepte er eifersüchtig hütete. Von der Beharrlichkeit, mit der er die Geschichte seines Volkes erzählte, stammte diese lange Erzählung mit ihren zahllosen Verzweigungen, eine parasitenhafte Kosmogonie, die selbständig zwischen den Lippen des jungen Indianers abzulaufen, sich von seinem Gedächtnis zu ernähren schien, sich in der Art eines Virus fortpflanzte und vermehrte, so wie sie es seit Jahrhunderten getan hatte. Zum Nachfolger seines Vaters bestimmt, hatte Aynoré von ihm das uralte Wissen übernommen, das einen wahren
pajé
ausmacht: Er kannte die Gründungsmythen der Mururucu, ihre Riten, Tänze und traditionellen Gesänge, er konnte die Geister beschwören, die allesamt von Steinchen in einer Kalebasse verkörpert wurden, und wusste ihre Nachrichten aus dem Schnarren der Drehrasseln herauszuhören; auch konnte er mit den Tieren sprechen, unsichtbare Giftpfeile abschießen oder Geister austreibende Trancen bewirken. Mit sechs Jahren war er auf die Suche nach seiner Seele gegangen, und sie war in Form einer Anakonda in seinen Körper eingedrungen. Wie sein Vater hätte er es gelernt, die Flügel des Vogels Kumalak auszuleihen, um über die Berge zu fliegen, wären nicht die Holzfäller gekommen, die den Lauf seines Daseins über den Haufen geworfen hatten.
    Bei den Holzfällern war ein Vertreter der FUNAI  – »Die Fundação Nacional do Indio, die Nationalstiftung der Indios, das musst du dir mal vorstellen! Wie fändest du eine Nationalstiftung für Weiße, hm? Stell dir das mal zwei Sekunden lang vor …«, mit ihm kam die Armee, und mit den Soldaten das Ende von allem: Sie mussten das Dorf räumen, sich den andern Stämmen anschließen, die bereits im Xingu-Reservat vor sich hin

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