Wo Tiger zu Hause sind
Karrenladungen eilends zu den Vorstädten schaffen und in dort ausgehobenen Massengräbern verscharren musste. Der Unhold nutzte dieses seinen bösen Absichten günstige Terrain und bemächtigte sich der schwächeren Seelen, so dass die schändlichste Ketzerei aufstand. Im Bewusstsein ihres möglichen, wenn nicht sogar bevorstehenden Todes ergaben die Gesunden sich der Orgie bis an den Rand des Grabes, gotteslästernd & den Tod verspottend. Nie wurden in so wenigen Tagen so viele Verbrechen begangen. Von Juli bis November riss die Epidemie fünfzehntausend Menschen mit, & man meinte das Ende der Zeiten gekommen.
Während jener vier Monate, in denen die Welt in Wirrsal & Verdammnis zu enden drohte, schonte Kircher sich mitnichten. Trotz seines Alters & der Bitten unserer Vorgesetzten, er möge sich nicht unnötig gefährden, meldete er sich gleich zu Beginn freiwillig zum Krankendienst an der Seite seines Freundes, des Arztes James Alban Gibbs. So verbrachten wir also die meiste Zeit im Ospedale del Christo in der Via Trionfale.
Zu meiner großen Schande muss ich gestehen, von dieser Entscheidung, die unser Leben so ernsthaft in Gefahr brachte, durchaus nicht entzückt gewesen zu sein, doch die glühende Mühe meines Meisters, den Erkrankten beizustehen & die Gründe für diese grausame Krankheit zu suchen, sowie der Geist der Nächstenliebe, welchen er unausgesetzt an den Tag legte, indem er denen, die dessen bedurften, seelischen Beistand zuteilwerden ließ, kurz und gut, das Vorbild seines Mutes sorgte bald dafür, dass ich wieder zu einer christlicheren Haltung zurückfand. Ich folgte also dem Beispiel Kirchers & hatte es nicht zu bereuen.
Obgleich er zugab, dass derlei Unheil auch dem göttlichen Ratschluss folgend entstehen kann, meinte mein Meister doch, dass hier wie bei allen anderen Krankheiten ausschließlich natürliche Gründe am Werke seien. So verwandte er all seine Kräfte auf die Forschung nach den Ursachen.
Geschwindigkeit & Wucht der Infektion faszinierten ihn. Die Pest drang überall ein, traf blind Reich wie Arm und verschonte auch jene nicht, die sich in ihren Häusern verbarrikadiert & gemeint hatten, auf diese Weise der Krankheit zu entgehen.
»Ganz genauso«, sagte Kircher eines Tages zu mir, »wie Ameisen in die abgeschlossensten Orte eindringen, ohne dass sich ermitteln ließe, auf welchem Wege ihnen das gelingt.«
Noch während er diesen Satz zu Ende sprach, sah ich, wie seine Augen funkelten:
»Und warum nicht?«, fuhr er fort. »Warum sollte es sich hier nicht um noch weit kleinere Tierchen handeln, so winzig, dass das Auge sie nicht sehen kann? Irgendeine Art Spinnentier oder Miniaturschlange, deren Gift ebenso tödlich wirkt wie das der schlimmsten Natter … Rasch, Caspar, rasch! Lauf ins Collegium & bringe mir ein Mikroskop: Diese Hypothese muss ich auf der Stelle überprüfen!«
Ich eilte, & eine Stunde darauf war mein Meister bereits am Werk. Er schnitt eine der größten Pestbeulen auf, die er finden konnte – die einzige Operation, mit der wir die Leiden der Sterbenden zu lindern hoffen konnten, welche in großer Zahl ins Spital strömten –, & fing behutsam das heraustretende Blut mitsamt dem Eiter auf. Dann tat er einige Tropfen dieser schaurigen Mischung unter die Linsen des Mikroskops.
»Dank sei dir, mein Gott!«, rief er fast sogleich. »Caspar, ich hatte recht! Zahllose Würmchen, so klein, dass ich sie kaum sehen kann, doch wimmeln sie herum wie Ameisen in ihrem Bau, so viele, dass selbst Lynkeus sie nicht zu zählen vermöchte! Sie leben, Caspar! Schau selbst & sage, ob meine Augen trügen …«
Zu meiner großen Verblüffung konnte ich das, was mein Meister so erregt gesagt, nur bestätigen.
Wir wiederholten mehrfach dies Experiment & mit Proben von verschiedenen Abszessen; das Ergebnis blieb dasselbe. Voller Begeisterung ob der außerordentlichen Regsamkeit dieser dem bloßen Auge unsichtbaren Tierchen fertigten wir eine Reihe von Zeichnungen an. Ich rief Doktor Alban Gibbs hinzu, & er bestätigte Kirchers Entdeckung höchstpersönlich.
»Diese Würmchen«, so erklärte ihm mein Meister, »verbreiten die Pest. So winzig & fein, sind sie regelrecht unsichtbar, es sei denn für die stärksten Mikroskope. Geradezu ›Atome‹ könnte man sie nennen, so unscheinbar sind sie, doch ziehe ich den Begriff ›Würmchen‹ vor, der ihre Beschaffenheit & Form besser beschreibt. Denn wie jene anderen kleinen Würmer, die neben ihnen allerdings als
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