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Wo Tiger zu Hause sind

Wo Tiger zu Hause sind

Titel: Wo Tiger zu Hause sind Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jean-Marie Blas de Roblès
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Meister nicht unbeschadet überstehen. Zwar war diese von Gott ihm zugestandene Vision eine große Gnade, die ihn in meinen Augen noch verehrungswürdiger erscheinen ließ denn zuvor, doch fürchtete ich durchaus, er werde fortan auf ewig mit den Engeln reden.
    Als er sechs Stunden später erwachte, war Gott sei Dank keinerlei Spur von seiner Ekstase mehr zu bemerken. Wegen der körperlichen Anstrengung jenes Ausflugs lagen seine Augen ein wenig tiefer in den Höhlen, doch erkannte er mich sogleich & redete ausgesprochen vernünftig. An seine Nacht mit dem Engel erinnerte er sich deutlich, doch nur in groben Zügen, denn ansonsten wusste er keinen einzigen Satz mehr wiederzugeben, den er gesagt oder gehört hatte. Umso froher war ich über mein gutes Gedächtnis, & er hörte jene Enthüllungen mit großem Genusse an.
    Meinen Eindruck vom Verlaufe dieses Abends bestätigte Kircher voll und ganz. Gleich zu Beginn des Konzerts bei Königin Kristina hatte er gespürt, wie die Musik ihn ganz und gar erfüllte, so als durchdringe er selbst nicht nur die feinsten Harmonien, sondern begriffe zudem den Sinn des universellen Rhythmus. Bald verschwand die von den Instrumenten hervorgebrachte Musik und machte Platz für zahllose im Augenblicke selbst von seiner Einbildung erschaffene Polyphonien. Er zählte im Geiste die Knöpfe seiner Soutane, & dies produzierte einen Akkord; er verfolgte den Umriss eines Möbels oder einer Statue, & schon hörte er eine Melodie, als brächten alle Gegenstände und Wesen dieser Welt ihre eigene Musik hervor, mehr oder weniger gefällig, je nachdem, ob ihre Struktur der Regel des Goldenen Schnitts entsprach oder nicht.
    Auch während unserer Rückkehr ins Collegium hatte mein Meister himmlische Harmonien vernommen. Bald auch war der Engel Cosmiel erschienen. Ausführlich beschrieb Kircher mir seine staunenswerte jugendliche Schönheit, neben der auch noch der vollkommenste Engel Leonardos verblasst wäre.
    Etwas der Reise zu den Gestirnen Vergleichbares habe er noch nie erlebt, gestand Athanasius. Er fand, er habe sie ebenso wirklich vollführt wie unseren Ausflug auf Sizilien, obwohl die Wissensernte, die er diesmal eingefahren, ungleich wertvoller sei. Umgehend habe er den Plan gefasst, zur Erbauung der Menschen einen Bericht darüber abzufassen, wozu ich ihm aus ganzer Seele zuriet & ihn drängte, alsbald damit zu beginnen.
    Nach einer weiteren Nacht der Ruhe schob Kircher sämtliche laufenden Arbeiten auf und begann mit seinem
Iter Extaticum Cœleste
, in welchem, so erläuterter er mir, er die Struktur des Universums dank neuer Wahrheiten erklären wolle, und zwar mittels eines Dialogs zwischen Cosmiel und Theodidactus. Dass mein Meister einem solchen Pseudonym den Vortritt vor seinem eigenen Namen gewährte, bewies einmal mehr seine natürliche Bescheidenheit.
    Leider aber begann das Jahr 1656 unter recht bösen Vorzeichen: Wir erfuhren, dass von Süden kommend die Pest in Neapel grassierte. Obgleich sie schon lange zurücklag, war die Epidemie, die drei Viertel der Einwohner Roms dahingerafft hatte, noch in aller Gedächtnis, doch wie es eben in der schwachen Natur des Menschen liegt, dachte niemand, dass diese Geißel tatsächlich wieder bis zu uns vordringen könne. Dass die Menschen in Neapel starben, tat allen aufrichtig leid, wenn sie auch furchtbar gesündigt haben mussten, um eine solche Strafe Gottes zu verdienen. Die Gegenwart des Papstes in ihrer Stadt & der hochmütige Glaube an ihre Tugend ließen die Römer glauben, sie seien gefeit, & so lebten & feierten sie sorglos weiter.
    Im Januar jedoch traten in den ärmeren Vierteln erste Fälle auf, ohne die an allerlei Krankheiten gewöhnte, wegen ihrer Ausschweifungen den Zorn Gottes geradezu herausfordernde Bevölkerung weiter zu schrecken. Im März wurde von dreihundert Toten berichtet … Als einzige Person hohen Standes traf Königin Kristina ihre Vorkehrungen: Von diesen Zahlen alarmiert, reiste sie in kürzerer Zeit, als es braucht, um dies zu schreiben, nach Paris ab, wohin Kardinal Mazarin sie eingeladen, & pflog dort weiter eben jene tadelnswerte Lebensführung, die, ich kann nicht anders, ich noch heute als einzige Ursache jener Geißel ansehe, welche unsere schöne Stadt damals traf.
    Im Juli nämlich musste man sich den Tatsachen ergeben: Der Schwarze Tod wütete in Rom, schlimmer und tödlicher als jeder Krieg. Die Menschen starben wie die Fliegen, in einem Maße, dass man sie nachts und in ganzen

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