Wo Tiger zu Hause sind
eine ketzerische Ansicht, für die wenige Jahre zuvor Giordano Bruno lebendigen Leibes auf dem Scheiterhaufen hatte brennen müssen. Eine grässliche Strafe, welcher der alte Galileo nur knapp entgangen war, nachdem er dieselben Äußerungen zurückgezogen hatte.
Heftige Schauer überliefen Kircher & sträubten sogar noch seine Barthaare, doch schien er keinerlei Furcht zu empfinden. Im Gegenteil, denn um die Wahrheit zu sagen: Je weiter er mit dem Engel reiste, desto glückseliger erstrahlte sein Gesicht.
»Sieh, Athanasius, sieh gut hin! Denn in der tiefsten Tiefe dieses unergründlichen Abgrunds verbirgt sich das göttliche Mysterium. Einzig die Seelen erfassen dies Mysterium. Für diesen Moment begnüge du dich mit dem großen Privileg, das dir zuteilwird. Lobe & verehre Gott in all seiner Herrlichkeit. Der Tag bricht an; für mich ist es an der Zeit, mich dem ersten Chor der himmlischen Hierarchien wieder zuzugesellen. Auf ein andermal also. Du wirst deine Mission erfüllen, denn ich bin bei dir …«
Es war, als würde Kircher vom Blitz getroffen. Er verlor das Bewusstsein, brach zusammen & blieb reglos auf dem Fußboden liegen. Rasch schloss ich das Fenster & brachte ihn in sein Bett, um ihn ein wenig Weingeist riechen zu lassen.
Wieder bei sich, wurde mein Meister von starkem Fieber befallen. Der Schweiß troff in dicken Tropfen von seinem Gesicht, er delirierte stundenlang, ohne dass ich ein Wort von dem begriff, was er stammelte. Ich wagte nicht, Hilfe zu holen, aus Angst, er könnte womöglich erneut ketzerische Dinge äußern, die für seine Gesundheit am Ende gefährlicher wären als das seltsame Übel, das ihn befallen hatte.
Doch Gott sei Dank, nach einer letzten heftigen Erregung beruhigte sich Athanasius auf einmal. Sein Atem fand wieder zu einem normalen Rhythmus, seine Augen schlossen sich. Er faltete die Hände auf der Brust & murmelte eine, so versicherte er mir, aus dem Koptischen übersetzte Lehrfabel, wobei er nach jedem Satz innehielt, als handele es sich um ein Gebet:
»In einem Kloster in Ägypten richtete einst Pater Jean Colobos diese höchst merkwürdigen Worte an seinen Bruder Gustave: ›Von nun an wirst du allein sein, ich aber trete aus diesem Jammertal hinaus, um beim Allmächtigen zu leben & mich vom Lichte seiner Gerechtigkeit blenden zu lassen. Vor allem, mein Bruder, bekümmere dich nicht ob dieser Entscheidung, & versink ob meiner nicht in Traurigkeit: Spiele eine muntere Weise auf deiner Flöte, & teile meine Freude, denn ich strebe nach nichts als der Schönheit des Firmaments. Ich will meinen Leib zunichtemachen, zum Zenit aufsteigen, zu den droben im Blau wohnenden Engeln! Wie die edelsten Cherubim will ich Gott dienen, ihm ohne Unterlass gehorchen & meine Seele vervollkommnen, ohne zu arbeiten.‹ Vom Teufel getrieben, legte er seine Mönchskleidung ab, verweigerte alle Nahrung & begab sich in die Libysche Wüste. Eine Woche darauf kehrte er zurück, von der Sonne verbrannt … Als er nun klopfte, auf dass man ihm öffne – ohne zu bereuen, sondern einfach erschöpft –, rief sein Bruder Gustave nur ungerührt: ›Wer bist du, edler Fremder? Was führt dich zu uns?‹ Der arme Pater Colobos war verzweifelt: ›Ich bin es, Jean!‹ Doch Gustave entgegnete: ›Der Pater hatte eine ganz andere Stimme! Er ist seinem Wunsche nach reiner Kontemplation gefolgt … Plage mich nicht weiter, Jean hat uns um der wahren Welt willen verlassen, er ist jetzt ein Engel im Himmel, ein Seraph, eine gnadenerfüllte Seele, die sich nah an Gottes Thron an den Worten des Höchsten delektiert!‹ Doch da er um Jeans schwache Konstitution fürchtete, schob Gustave den Riegel zurück & sagte: ›Nun, mein Freund, was klopfest du so? Und was suchst du tatsächlich? Ich frage dich dringend: Willst du als Mensch leben oder als Seraph? Denn wenn du ein Mensch bist, wirst du zum Leben schon arbeiten & deinen Appetit daran bezähmen müssen; bist du jedoch der Engel, den ich einst verabschiedet, so lebe wohl! Ich müsste fürchten, dich zu kränken, indem ich dir nur deine kärgliche Zelle böte …‹ Von seinem Hochmut geheilt, antwortete Jean: ›Vergib mir, mein Bruder, die Lästerung, denn ich habe gesündigt …‹«
»Denn ich habe gesündigt? …«, wiederholte Kircher im Einschlafen, und zwar im Tonfall stillen Staunens.
Der geneigte Leser wird begreifen, mit welcher Sorge ich sein Erwachen abwartete. Ich fürchtete, eine so aufwühlende Erfahrung könne mein
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